Übergewichtige machen Ausdauerübungen.

Übergewicht BMI allein soll nicht ausschlaggebend sein

Stand: 15.01.2025 01:23 Uhr

Die Leitlinie zur Diagnose von Übergewicht soll verändert werden. Dafür setzen sich Foschende ein. Doch verbessert das auch die Behandlung von Menschen, die als übergewichtig oder adipös gelten?

Seit Jahrzehnten steht in den Leitlinien zur Diagnose von Übergewicht vor allem eine Zahl im Vordergrund, der Body-Mass-Index - kurz BMI. Für die Berechnung des BMI wird das Körpergewicht in Kilogramm durch die Körpergröße in Meter zum Quadrat geteilt. Rund ein Viertel der Deutschen hat einen BMI von über 30 und gilt damit als stark übergewichtig oder adipös.

Doch schon lange gibt es Kritik, dass der BMI allein kein gutes Maß für Übergewicht ist und vor allem keine Aussage über die Gesundheit eines Menschen zulasse. Eine internationale Kommission aus mehr als 50 Expertinnen und Experten will das nun ändern und damit auch eine Antwort auf die Frage geben, ab wann Übergewicht als Krankheit zählt. Ihre Empfehlungen veröffentlichten sie in der renommierten Fachzeitschrift The Lancet Diabetes & Endocrinology.

Die Forschenden schlagen vor, die Diagnoserichtlinien für Adipositas grundlegend zu überarbeiten. Neben dem BMI sollten Daten zum Körperfett - etwa zum Taillenumfang oder als direkte Fettmessung - herangezogen werden.

Ungenaue Diagnose

"Sich bei der Diagnose von Fettleibigkeit allein auf den BMI zu verlassen, ist problematisch, da manche Menschen dazu neigen, überschüssiges Fett an der Taille oder in und um ihre Organe wie die Leber, das Herz oder die Muskeln zu speichern", erklärte Mitautor Robert Eckel von der University of Colorado in Aurora. Das bedeute ein höheres Gesundheitsrisiko als überschüssiges Fett direkt unter der Haut in Armen, Beinen oder in anderen Körperbereichen. Auch hätten Menschen mit überschüssigem Körperfett nicht immer einen BMI, der auf Fettleibigkeit hinweise, sodass ihre Gesundheitsprobleme unbemerkt bleiben könnten.

Die Expertengruppe empfiehlt, statt nur den BMI einen der drei folgenden Diagnosewege zu nutzen: 

  • mindestens eine Messung von Taillenumfang, Verhältnis Taille-Hüfte oder Verhältnis Taille-Größe zusätzlich zum BMI 
  • mindestens zwei Messungen zu Taillenumfang, Verhältnis Taille-Hüfte oder Verhältnis Taille-Größe unabhängig vom BMI 
  • oder die direkte Messung des Körperfetts zum Beispiel durch eine Knochendichtemessung unabhängig vom BMI. 

Bei Menschen mit einem BMI über 40 könne allerdings ohne weitere Bestätigung von übermäßigem Körperfett ausgegangen werden.

Adipositas als Krankheit

Neben den neuen Diagnoserichtlinien schlagen die Experten um Francesco Rubino vom King’s College London zwei neue Diagnosekategorien für Adipositas vor: "klinische Adipositas" für die chronische, mit einer anhaltenden Funktionsstörung von Organen einhergehende Krankheit und "präklinische Adipositas" für die vorangehende Phase mit Gesundheitsrisiken, aber noch keiner anhaltenden Krankheit.

Hintergrund sei unter anderem, dass in beiden Phasen unterschiedliche therapeutische Strategien erforderlich seien. Der Vorschlag der "Commission on Clinical Obesity" mit Medizinern verschiedener Fachgebiete wird von 76 Fachgesellschaften und Patientenvertretungen weltweit unterstützt, wie es in dem Beitrag heißt. Rubino, Vorsitzender der Kommission, sagte: "Die Frage, ob Adipositas eine Krankheit ist, führt in die Irre, weil sie von einem unplausiblen Alles-oder-Nichts-Szenario ausgeht, bei dem Adipositas entweder immer eine Krankheit ist oder nie eine Krankheit." Die Realität sei differenzierter.

Bei einigen fettleibigen Menschen bleibe die normale Funktion der Organe und die allgemeine Gesundheit langfristig erhalten, während andere direkt schwere Krankheiten entwickelten.

Versorgung optimieren

"Wenn Adipositas nur als Risikofaktor und niemals als Krankheit betrachtet wird, kann dies dazu führen, dass Menschen, die allein aufgrund ihrer Adipositas erkrankt sind, der Zugang zu einer zeitnahen Versorgung verwehrt wird", führte Rubino aus. "Andererseits kann eine pauschale Definition von Adipositas als Krankheit zu einer Überdiagnose und einem ungerechtfertigten Einsatz von Medikamenten und chirurgischen Eingriffen führen, die dem Einzelnen schaden und der Gesellschaft enorme Kosten verursachen können."

Menschen mit "klinischer Adipositas" benötigten schnellen Zugang zu Therapien, solche mit "präklinischer Adipositas" individuelle Strategien für ein vermindertes Risiko für Erkrankungen. Die neue Unterteilung könne eine rationale Zuweisung von Gesundheitsressourcen und eine faire, medizinisch sinnvolle Priorisierung der verfügbaren Behandlungsoptionen erleichtern.

Die Relevanz sei groß: Es gebe geschätzt weltweit mehr als eine Milliarde Menschen mit Adipositas, heißt es in der Studie. Dabei spiele Fettleibigkeit verstärkt schon bei Kindern und Jugendlichen eine Rolle. 1975 waren demnach nur etwa 4 Prozent der 5- bis 19-Jährigen weltweit übergewichtig oder fettleibig, im Jahr 2016 bereits mehr als 18 Prozent. Etwa die Hälfte der Kinder mit Fettleibigkeit leide während des gesamten Lebens an Adipositas.

Lebenslange Folgen

Bedenklich sei das unter anderem deshalb, weil Adipositas bei Kindern und Jugendlichen das spätere Risiko für Krankheiten wie Typ-2-Diabetes, koronare Herzkrankheit, Bluthochdruck, Schlaganfall, bestimmte Arten von Krebs sowie Lungen- und Nierenerkrankungen erhöhe. Je höher der BMI in der Kindheit, desto höher sei das Risiko für solche potenziell lebensverkürzenden Probleme im Erwachsenenalter. Die frühe Diagnose und Behandlung von Fettleibigkeit bei Kindern und Jugendlichen müsse oberste Priorität für die Gesundheitssysteme haben, um die Belastung für den Einzelnen, die Gesellschaft und die Volkswirtschaft zu verringern, betont die Gruppe. 

Zweifel am Mehrwert für Betroffene

Unabhängige Fachleute betrachten diese Einteilung in zwei Kategorien teils als hilfreich, haben jedoch auch Bedenken, was ihren praktischen Nutzen angeht. Hans Hauner, Leiter des Instituts für Ernährungsmedizin der TU München, hält die Kriterien für zu schwammig und befürchtet im Pressegespräch mit dem Science Media Center (SMC), dass dennoch viele Betroffene durchs Raster fallen könnten:

Die Empfehlungen (...) dürften in der praktischen Medizin schwer umsetzbar sein. Mit Recht wird dort darauf hingewiesen, dass eine Überbehandlung vermieden werden soll. Wenn aber erst ab einem BMI von 40 eine klare Behandlungsindikation gesehen wird, droht eher eine Unterversorgung für diejenigen Menschen mit einem BMI zwischen 30 und 40, bei denen wegen unscharfer Kriterien eine Behandlung möglicherweise unterbleibt.

Auch Thomas Reinehr von der Vestischen Kinder- und Jugendklinik Datteln - Universität Witten/Herdecke sieht wenig Mehrwert durch die Vorschläge für Betroffene, zumal Hinweise auf psychische Probleme fehlten. Ein Mensch könne gerade als Kind oder Jugendlicher, auch wenn er körperlich gesund sei, sehr unter Hänseleien leiden. "Nach der vorgeschlagenen Definition würde man aber keine Therapie bei ihm durchführen können, da er nicht 'krank' ist."

Dass Kostenträger Behandlungsmaßnahmen bei Übergewicht nach der vorgeschlagenen Definition nur noch übernehmen, wenn eine Folgeerkrankung vorliegt, sei auch in anderer Hinsicht problematisch: Es sei effektiver, Übergewicht zu behandeln, bevor Folgeerkrankungen auftreten, die wie die koronare Herzkrankheit irreversibel sein könnten. Und übergewichtige Kinder und Jugendliche sprächen sehr viel besser auf Lebensstiländerungen an als extrem adipöse Kinder und Jugendliche.

Eine Ausrichtung an den Vorschlägen der Kommission werde dazu führen, dass noch weniger Menschen mit Übergewicht als bisher eine Therapie von den Krankenkassen bezahlt bekommen, befürchtet Reinehr. Die Anzahl adipöser Menschen in Statistiken werde sinken - was dann fälschlicherweise so wirke, als habe sich das Übergewichtsproblem unserer Gesellschaft verringert.

Die neuen Empfehlungen rücken das Thema Übergewicht weiter ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Das bewertet auch der Ernährungsmediziner Hans Hauner im Interview mit dem SWR positiv. Ihm ist vor allem wichtig, Betroffene nicht allein zu lassen und dass Therapiemaßnahmen von den Krankenkassen erstattet werden:

"Es geht ja zunächst mal um Lebensstiländerung, (…) und da ist es oft schon ein wirklich messbarer Vorteil, wenn die Leute nur fünf Kilo abnehmen und das halten. Dann schützen sie sich da zum Beispiel zu 70 Prozent vor Diabetes und vor vielen anderen möglichen Folgekrankheiten, und das ist etwas, was man heute schon erreichen kann, was wir eigentlich seit Jahren machen und womit viele gut klarkommen."

Mit Informationen von Nina Kunze, SWR