DNA-Modell

Seltene Krankheiten Studie findet 34 neue genetische Erkrankungen

Stand: 02.08.2024 04:20 Uhr

Viele seltene Erkrankungen haben eine genetische Ursache, doch oft ist diese nicht bekannt. In einer großen Studie wurde die DNA von mehr als 1.500 Patienten untersucht - nun gibt es neue Erklärungen für die Symptome.

Von Veronika Simon, SWR

Fünf von 10.000 Menschen - wenn nur so wenige Personen von einer Erkrankung betroffen sind, wird diese als "selten" bezeichnet - so die Definition der Europäischen Union. Doch auch wenn es von jeder Erkrankung nur wenige Patienten und Patientinnen gibt: Seltene Erkrankungen an sich kommen nicht sehr selten vor. Etwa 8.000 Erkrankungen sind derzeit bekannt, man schätzt, dass rund fünf Prozent der Bevölkerung von einer betroffen sind. Für die behandelnden Ärzte sind sehr seltene Erkrankungen eine Herausforderung: Sie haben meist kaum Erfahrungen mit Patienten mit diesem spezifischen Krankheitsbild. Bis Betroffene eine Diagnose erhalten, dauert es derzeit im Schnitt fast fünf Jahre.

Das soll in Zukunft schneller gehen - dieses Ziel haben sich internationale Fachgesellschaften gesetzt. Bis 2027 sollen alle Patientinnen und Patienten, die an einer seltenen Erkrankung leiden, innerhalb eines Jahres die korrekte Diagnose erhalten.

Gene von über 1.500 Betroffenen ohne Diagnose analysiert

In einer großen Studie, an der 15 deutsche Unikliniken und die Stellenbosch University in Kapstadt, Südafrika, teilgenommen haben, wurde jetzt untersucht, wie moderne Methoden und interdisziplinäre Strukturen zu einer Diagnose führen können. Die Ergebnisse wurden in der Fachzeitschrift Nature Genomics veröffentlicht.

Dafür untersuchten die Forschenden die DNA von mehr als 1.500 Patienten und Patientinnen mit der sogenannten Exom-Sequenzierung. Dabei werden alle Teile des Erbguts analysiert, aus denen die Informationen zum Bau von Proteinen abgelesen werden - die werden als Exom zusammengefasst.

Besonders wichtig für eine schnelle und sichere Diagnosefindung sei aber nicht nur, dass moderne Techniken verwendet würden, sagt Tobias Haack. Er ist Mitautor der Studie und Leiter der Molekulargenetik am Institut für Medizinische Genetik und Angewandte Genomik der Uniklinik Tübingen.

"Wichtig ist, dass sich die verschiedene Fachbereiche - also Neurologen, Genetiker, Kinderärzte und auch Spezialisten für Bildgebung und so weiter - an einen Tisch setzen und diesen Patienten einzeln diskutieren." Durch den Austausch und die verschiedenen spezialisierten Blickwinkel könnte in einem ersten Schritt die richtigen Diagnose-Verfahren gefunden werden.

"Durch das Forschungsprojekt war es möglich, solche Strukturen auszubauen, sodass jetzt nicht nur die technische Analyse von den Krankenkassen bezahlt werden kann, sondern auch die interdisziplinäre Beratung abgedeckt wird", so der Humangenetiker. Durch den technischen Fortschritt seien auch die Kosten für Exom-Sequenzierungen mittlerweile so kostengünstig, dass man sie auch in der Routine anbieten könne.

KI kann Erkrankung am Gesicht ablesen

Zusätzlich nutzten die Forschenden auf der Suche nach einer Diagnose noch eine Technik, bei der die Gesichter von Patienten und Patientinnen mit Hilfe einer KI analysiert wurden. Denn einige genetische Erkrankungen haben bestimmte Auffälligkeiten im Erscheinungsbild zur Folge. Die KI sollte dabei helfen, diese zu erkennen und richtig zuzuordnen. "Das Tool ist wie eine Expertenmeinung, die wir jeder ärztlich tätigen Person in Sekundenschnelle zur Verfügung stellen können", sagt Peter Krawitz, Direktor des Instituts für Genomische Statistik und Bioinformatik am Universitätsklinikum Bonn, an dem die KI entwickelt wurde.

"Der frühe Zeitpunkt der Diagnosestellung ist für die Betroffenen seltener Erkrankungen und deren Familien von essentieller Bedeutung", so Krawitz. Ein unterstützender Einsatz der Software durch Kinderärztinnen und -ärzten könne bereits bei Auffälligkeiten während der Kindervorsorgeuntersuchungen im Alter von zwei oder drei Jahren sinnvoll sein. Und Tobias Haack von der Uniklinik Tübingen ergänzt, solche Algorithmen könnten bei der Diagnosestellung helfen, indem sie einen Hinweis darauf geben, dass die äußerlichen Merkmale eines Kindes zu einer bestimmten Patientengruppe passen könnte.

Austausch führt zur Entdeckung neuer genetischer Erkrankungen

In der jetzt veröffentlichten Studie konnten etwa einem Drittel von mehr als 1.500 Patientinnen und Patienten mit einer seltenen Erkrankung durch diese Methoden und neu-aufgebauten Strukturen eine Diagnose erhalten. Bei einem Großteil der Untersuchten handelte es sich um Kinder, viele zeigten neurologische Entwicklungsstörungen.

"Besonders stolz sind wir auf die Entdeckung von 34 neuen molekularen Erkrankungen", sagt Theresa Brunet, eine der Erstautorinnen vom Institut für Humangenetik des Klinikums rechts der Isar der Technischen Universität München. Solche Entdeckungen entstünden auch im intensiven Austausch mit anderen Zentren, erklärt Haack von der Uniklinik Tübingen: "Wenn man ein neues Krankheitsbild etablieren will, dann ist erstmal wichtig, dass man nicht nur einen Patienten hat mit dem spezifischen Gendefekt." Man müsse im Austausch mit anderen Expertinnen und Experten andere unabhängige Patientenfamilien finden, die diese eine spezielle genetische Veränderung ebenfalls hätten und ähnliche Symptome zeigten.

Störungen in der Zelle

Gleichzeitig dürften die gefundenen Veränderungen bei gesunden Menschen nicht vorkommen. "Dann ist das ein guter Hinweis", so Haack. "Aber dann kommen noch die funktionellen Tests: Man muss zeigen, dass diese genetischen Veränderungen zu bestimmten Störungen in der Zelle führen, die dann auch zu der beobachteten Erkrankung passen würden." Erst dann könne man tatsächlich von einer gesicherten, neuen Erkrankung sprechen.

Den Patientinnen und Patienten, die an der Studie teilgenommen haben und denen noch keine Diagnose gestellt werden konnte, werden in einem Folgeprojekt nun weitere genetische Analysen angeboten.