Virologe über Corona-Mutation "Diese Variante hat eine besondere Fitness"
Noch ist über die neue Corona-Variante aus Großbritannien wenig bekannt. Grund für Alarmismus gebe es aber nicht, sagt Virologe Hengel im tagesschau.de-Interview. Obwohl sie sicher auch nach Deutschland kommen werde.
tagesschau.de: Aus Großbritannien kommen beunruhigende Nachrichten über eine neue Corona-Variante, die deutlich ansteckender sein könnte als die bisherigen. Wie alarmiert müssen wir sein?
Hartmut Hengel: Ich glaube nicht, dass es zum jetzigen Zeitpunkt einen Grund zur Beunruhigung gibt. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Virusvarianten auftreten. In einer Pandemie wird durch die vielen Ansteckungen unterschiedlicher Menschen enorm viel Virus repliziert, also vermehrt. Da ist es ganz natürlich, dass dabei Virusvarianten entstehen können, auch solche, die sich in einer Bevölkerung bevorzugt durchsetzen.
Wenn sich eine Variante wie die aus Großbritannien berichtete VUI-202012/01 als besonders vermehrungsfähig erweist, tritt sie epidemiologisch auch prominent in Erscheinung. Allein aus der Tatsache, dass eine Variante aufgetreten ist, kann man also keine weitreichenden Schlussfolgerung ziehen. Ich denke, es ist zu früh, um zu sagen, ob diese Variante eine besondere Gefährlichkeit für den einzelnen Patienten hat. Die Berichte aus Großbritannien geben dafür bislang keinen Hinweis.
Hartmut Hengel ist Professor und Direktor des Instituts für Virologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Außerdem ist er seit 2020 Standortsprecher des Nationalen Forschungsnetzwerks der Universitätsmedizin zu Covid-19.
"Zumindest in Großbritannien hat sich die Variante schneller vermehrt"
tagesschau.de: Was wissen wir darüber, wie viel ansteckender diese Variante ist? Boris Johnson sprach von bis zu 70 Prozent?
Hengel: Was man sagen kann, ist: Diese Variante hat die genetischen Eigenschaften einer Eigenständigkeit. Sie hebt sich von den bisher beobachteten relativ homogenen Sars-CoV-2-Virusgenomen ab. Sie hat von daher eindeutig eine eigene genetische Signatur. Es scheint so zu sein, dass sie sich - zumindest in Großbritannien - schneller vermehrt hat, also einen höheren R-Wert aufweist. Ob sie das generell tut, muss sich noch weiter bestätigen. Es gibt Hinweise auf ein etwas anderes Replikationsverhalten, aber es müssen noch weitere Analysen folgen.
tagesschau.de: Wenn die höhere Ansteckungswirkung noch nicht wirklich erwiesen ist, wie erklärt man sich dann, dass in London mehr als 60 Prozent und im Südosten Englands mehr als 40 Prozent der jüngsten Fälle anscheinend dieser Mutation zuzuordnen sind?
Hengel: Die Befunde sprechen schon dafür, dass diese Variante eine besondere Fitness hat und sich im Hinblick auf den Menschen als Wirt noch besser angepasst hat. Die Daten, die bisher vorliegen, sprechen dafür, dass die Variante VUI-202012/01 ansteckender ist. Aber es braucht noch weitere unabhängige bestätigende Analysen, um das sicher beurteilen zu können.
Worauf es bislang keine Hinweise gibt, ist, dass diese Mutation auch schwerere Krankheitsverläufe und damit auch eine höhere Sterblichkeit mit sich bringt.
"Mutation wird auch nach Deutschland kommen"
tagesschau.de: Auch in Südafrika ist diese Mutation offenbar bereits aufgetreten. Dort gibt es die Befürchtung, dass sie in der Tat mit schwereren Verläufen gerade bei jüngeren, ansonsten gesunden Menschen einhergeht?
Hengel: Die südafrikanische Variante ist unabhängig entstanden. Sie hat aber eine ähnliche Kombination von Mutationen. Von daher kann man die beiden Varianten nicht direkt vergleichen. Wie solide die Informationen aus Südafrika sind, kann ich im Moment nicht genau bewerten.
tagesschau.de: Ist diese Virusvariante womöglich schon in Deutschland angekommen?
Hengel: Verlässliche Hinweise darauf gibt es nicht. Wir haben diese Varianten aus Großbritannien oder aus Südafrika bisher in Deutschland noch nicht beobachtet. Man muss dazu allerdings wissen, dass in Deutschland bisher deutlich weniger Virusgenome sequenziert worden sind. Andere Länder - wie Großbritannien - investieren wesentlich mehr in wissenschaftliche Anstrengungen und Strukturen, um die molekulare Überwachung des SARS-CoV-2- Coronavirus zu organisieren.
Daher ist nicht ausgeschlossen, dass die Variante nicht doch schon in Deutschland zirkulieren könnte. Falls sie noch nicht in Deutschland sein sollte, wird sie aber noch kommen, das halte ich für sicher. Die Frage ist nur, wann.
"Verbreitung hängt auch von unserem Verhalten ab"
tagesschau.de: Karl Lauterbach sprach von einer Katastrophe, wenn gerade jetzt in der zweiten Welle eine solche ansteckendere Variante nach Deutschland käme. Hat er Recht?
Hengel: Er hätte dann Recht, wenn das tatsächlich der Fall wäre. Aber, wie gesagt, bisher gibt es noch keine Hinweise auf ein Vorkommen in Deutschland. Ich hoffe und gehe davon aus, dass wir die zweite Welle rasch genug unter Kontrolle bringen, bevor diese neue Variante in Deutschland auftaucht. Es hängt ja nicht nur vom Virus ab, wie schnell es sich ausbreitet, sondern auch von unserem Verhalten.
tagesschau.de: Wie findet man eigentlich heraus, ob diese Variante bereits in Deutschland ist? Gibt der PCR-Test darüber Auskunft?
Hengel: Nein. Man muss das gesamte Genom des SARS-CoV-2-Coronavirus analysieren. Das Genom ist relativ groß für ein RNA-Virus, das ist also durchaus mit Aufwand verbunden. In Deutschland ist das keine Routine-Testung. Obwohl es wünschenswert wäre, dass es eine systematische molekulare Epidemiologie des SARS-CoV-2-Coronavirus in Deutschland gäbe. Das ist bei uns bisher noch unterentwickelt. Es gibt aber einige Forschungsinitiativen, die das nun voranbringen wollen. Trotzdem sind unsere Surveillance-Strukturen eindeutig ausbaufähig.
"Man muss die Evolution der Viren im Auge behalten"
tagesschau.de: Ist denn überhaupt sicher, dass unsere PCR-Verfahren diese Mutation erkennen?
Hengel: Es gibt in Deutschland verschiedene PCR-Teste, die unterschiedliche Zielsequenzen des Genoms nutzen. Deshalb ist es gar nicht so einfach, das pauschal zu beantworten. Bisher gibt es keine Hinweise darauf, dass vereinzelte PCR-Verfahren aufgrund dieser Virusvarianten nicht mehr funktionieren würden. Aber von anderen Virusinfektionen weiß man, dass man wachsam sein muss und die Evolution der Viren immer im Auge behalten muss, damit unsere PCR-Diagnostik sie tatsächlich zuverlässig erfasst.
tagesschau.de: Wie sinnvoll sind die Gegenmaßnahmen, die jetzt ergriffen wurden? Also, den Reiseverkehr mit Großbritannien und Südafrika einzuschränken.
Hengel: Das halte ich für sinnvoll, denn das verschafft uns etwas Zeit, die wir brauchen, auch um Informationen über diese Virusvariante zu sammeln. Und das kann mit dazu beitragen, dass die Variante in der jetzigen kritischen Situation der zweiten Welle hier keine Rolle spielen wird.
"Keine Hinweise, dass Impfung unwirksam wäre"
tagesschau.de: Gibt es Hinweise darauf, dass die Impfungen, die jetzt auf dem Markt sind, unwirksam gegen diese Virusvariante sein könnten?
Hengel: Auch dazu gibt es noch kein sicheres Wissen. Aber ich persönlich würde nicht erwarten, dass die Impfung gegen diese Variante nicht mehr wirksam ist. Diese Variante hat zwar einzelne relevante Mutationen im Spike-Impfantigen, die die Antikörpererkennung modifizieren. Das heißt, einzelne Antikörper könnten möglicherweise betroffen sein. Aber das Spike-Antigen insgesamt ist sehr groß und es gibt viele Stellen, die unverändert sind und weiter als Angriffsort für Antikörper des Impfstoffs funktionieren.
Das Interview führte Sandra Stalinski, tagesschau.de.