Eine Frau sitzt in einem Stuhl und hört Musik mit Kopfhörern.

Musikalität Der verborgene Nutzen von Ohrwürmern

Stand: 30.08.2024 06:19 Uhr

Nur einer von 10.000 Menschen soll ein "absolutes Gehör" besitzen, doch eine aktuelle Studie zeigt: Jeder Zweite trifft beim Nachsingen den perfekten Ton. Verantwortlich dafür könnte ausgerechnet der Ohrwurm sein.

Von Miriam Mair und Marlène Seibold, SWR

Die meisten kennen das Gefühl: Ein Song bleibt hartnäckig im Kopf und lässt sich einfach nicht abschütteln. Ein Ohrwurm kann uns stunden-, manchmal sogar tagelang begleiten. Doch was wäre, wenn dieser vermeintlich nervige Begleiter mehr ist als nur eine musikalische Endlosschleife?

Ein Forschungsteam um Matthew Evans von der University of California in Santa Cruz wollte herausfinden, wie gut Menschen ihren Ohrwurm nachsingen können. Dazu baten sie 30 Probanden, ihre Ohrwürmer nachzusingen und gleichzeitig mit dem Handy aufzuzeichnen. Die Aufnahmen wurden anschließend ausgewertet und daraufhin überprüft, wie exakt die Testpersonen die Töne trafen.

Großteil trifft Ohrwurm-Töne perfekt

Die Ergebnisse waren außergewöhnlich: Viele der spontan aufgezeichneten Ohrwürmer stimmten perfekt mit der originalen Tonhöhe der Lieder überein. Über 44 Prozent der Aufnahmen waren fehlerfrei, und fast 70 Prozent wichen maximal um einen Halbton ab.

Die Studie legt nahe, dass ein großer Teil der Bevölkerung über ein "automatisches", verborgenes absolutes Gehör verfügen könnte - unabhängig von musikalischen Fähigkeiten.

Absolutes Gehör - eine Wunderbegabung?

Ein absolutes Gehör zu besitzen bedeutet, die Höhe eines Tons ohne Stimmgabel oder andere Referenzpunkte exakt erkennen zu können. Diese Fähigkeit ist laut Wissenschaft sehr selten - nur etwa einer von 10.000 Menschen soll sie aufweisen. Zu den wenigen, die diese Begabung haben, gehören bekannte Musiker wie Ludwig van Beethoven und Mariah Carey.

Um ein absolutes Gehör zu entwickeln, braucht es zwei Komponenten: eine genetische Veranlagung sowie eine intensive musikalische Früherziehung im Kindesalter. Im Erwachsenenalter kann man sich ein absolutes Gehör nicht mehr "antrainieren".

Neue Forschungsergebnisse deuten jedoch darauf hin, dass das absolute Gehör nicht, wie bisher angenommen, nur in klaren Kategorien auftritt, sondern eher ein Kontinuum darstellt. Es gibt also nicht auf der einen Seite die Absoluthörenden und auf der anderen die "normalen" Menschen ohne absolutes Gehör; vielmehr liegen die meisten Menschen irgendwo dazwischen.

Absolutes Gehör im Gedächtnis anders kodiert

Die Erkenntnisse von Evans und seinem Team liefern erste Hinweise darauf, dass das absolute Gehör automatisch funktioniert und keine bewusste Anstrengung erfordert. Doch wie genau funktioniert absolutes Gehör?

Normalerweise speichert unser Gehirn Informationen vereinfacht ab, ohne sich zu sehr auf Details zu konzentrieren. Das hilft uns, Musik effizient zu erfassen. Bei Menschen mit absolutem Gehör scheint dieser Prozess jedoch anders zu verlaufen: Ihre musikalischen Erinnerungen werden präziser und detailreicher kodiert. Das könnte auch erklären, warum viele Menschen beim Nachsingen von Ohrwürmern die Töne so exakt treffen.

Warum Musik im Gehirn anders abgespeichert wird als andere Erinnerungen, ist noch unklar. Evans und seine Kollegen hoffen, in weiteren Studien Antworten darauf zu finden.

Unser innerer Beethoven

Heißt das nun, dass in jedem von uns ein Beethoven steckt? Nicht ganz. Die Forscher hoffen jedoch, dass ihre Erkenntnisse Menschen dazu ermutigen, mehr Musik zu machen. Denn Musik ist nachweislich förderlich für die Gesundheit. Bei Demenz zum Beispiel scheint Musiktraining den kognitiven Verfall verzögern und die Plastizität des Gehirns erhöhen zu können.

Wenn der Ohrwurm nicht verschwindet

Ohrwürmer können manchmal auch richtig lästig sein. Glücklicherweise hat die Wissenschaft ein paar Tricks parat, um das Problem zu lösen: Eine Strategie ist beispielsweise, ein anderes Lied zu singen, das volle Konzentration erfordert. Auch Kaugummi kauen kann helfen, da die Kaubewegung den inneren Gesang unterbricht.

Etwas skurriler ist "The Earworm Eraser" - ein Lied, das von der Musikpsychologin Kelly Jakubowski an der Universität Durham komponiert wurde und angeblich Ohrwürmer "auslöscht". Wissenschaftlich bewiesen ist das allerdings noch nicht.  

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete SWR Aktuell am Freitag, den 23.8.24 um 15:43 Uhr