Artenvielfalt Der vergessene Wert der Biodiversität
Woher das Geld für den Artenschutz kommt, war Hauptstreitpunkt der Weltnaturkonferenz. Bis zu deren vorzeitigem Ende gab es darauf keine Antwort - obwohl biologische Vielfalt einen immensen Wert hat. Doch das ist kaum bekannt.
Ein bunter Vogel, ein üppiger Wald, ein vielfältiges Korallenriff - klar, Biodiversität kann, darf und soll uns auch erfreuen, verzaubern und überwältigen. Das ist der eine ihrer Werte. Der andere: ohne Biodiversität könnten wir nicht überleben. Ohne Mikroorganismen kein Humus, ohne Mücken und Ameisen keine Schokolade (weil sie die Blüten des Kakaobaums bestäuben), ohne Mangrovenwälder kein Küstenschutz in den Tropen. Die Liste der globalen Ökosystemdienstleistungen ist lang.
Die Ökosystemdienstleistungen sind die Leistungen, die die Natur im Prinzip "kostenlos" für uns erbringt, wenn wir sie dabei nicht stören. Dazu gehört vieles, das für uns unverzichtbar ist: saubere Luft zum Atmen etwa, gute Nahrung, reines Trinkwasser oder medizinische Wirkstoffe. Und nicht zu vergessen: Dass Insekten und andere Tiere (unter anderem) unsere Nutzpflanzen bestäuben, auch das ist eine Ökosystemdienstleistung.
Vögel machen glücklich, artenreiche Wälder trotzen dem Klimawandel
Dass biologische Vielfalt wichtig für unsere psychische Gesundheit und unser Wohlbefinden ist, gehört ebenfalls dazu. Im Jahr 2021 etwa ergab eine Studie unter Einbezug von mehr als 26.000 Europäern: Die Vielfalt der Vogelarten in ihrer Umgebung war den Befragten für ihre Zufriedenheit genauso wichtig, wie ihr Einkommen.
Und die sozioökonomische Analyse zeigte: Erhöhte sich die Vogelvielfalt in einer Gegend um zehn Prozent, stieg die Zufriedenheit der dortigen Menschen genauso wie bei einer Einkommenserhöhung um zehn Prozent. "Wenn also eine Person in einem Kreis mit vielen verschiedenen Pflanzen und Vögeln lebt, dann geht es dieser Person im Durchschnitt mental besser als Menschen in Kreisen mit niedrigerer Artenvielfalt", resümierte der Erstautor der Studie, Joël Methorst, der an der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg arbeitet.
Und noch ein Beispiel, das etwa Studien zur Resilienz von Waldbäumen im Klimawandel unterstreicht: Zeichnen sich Lebensräume durch eine hohe Artenvielfalt aus, sind sie am Ende robuster gegenüber Störungen und können ihre Ökosystemdienstleistungen verlässlicher "liefern". Dass diese Leistungen kostenlos sind, bedeutet übrigens nicht, dass sie keinen messbaren wirtschaftlichen Wert haben. Der ist allerdings schwer zu berechnen, denn die Zusammenhänge sind komplex.
Ökosystemdienstleistungen übertreffen Welt-Bruttoinlandsprodukt
Dennoch kamen internationale Forschende auf einen wirtschaftlichen Wert 125 bis 145 Billionen US-Dollar pro Jahr. Das ist wesentlich mehr als das Welt-Bruttoinlandsprodukt, also der Wert von allem, was auf der ganzen Welt pro Jahr produziert und konsumiert wird. 2023 waren dies laut Internationalem Währungsfond mehr als 105 Billionen Dollar.
Durch Eingriffe des Menschen können diese Ökosystemleistungen jedoch stark abnehmen. Schon als 2019 der erste globale Bericht des Weltbiodiversitätsrats IPBES veröffentlicht wurde, war klar: Von den geschätzt acht Millionen Organismenarten dieser Erde, also Tieren, Pflanzen, Pilzen und Mikroorganismen, dürfte eine Million vom Aussterben bedroht sein. Die heutige Aussterberate ist mindestens zehn Mal höher als in den letzten zehn Millionen Jahren und nimmt eher zu als ab.
Artensterben gefährdet die Ökosystemdienstleistungen
"Natürliche Aussterberaten können wir durch Fossilfunde abschätzen", sagt Thomas Hickler vom Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum in Frankfurt am Main, "und im Vergleich zu diesen sind die heutigen Aussterberaten ungefähr hundertmal höher. Deswegen spricht man auch zunehmend von einem sechsten Massensterben in der Erdgeschichte."
Der Verlust jeder einzelnen Art bedeutet, dass das Fundament, auf dem die Natur ihre Ökosystemleistungen erbringen kann, brüchig wird. Deshalb sollte der Wert der natürlichen Ressourcen und der biologischen Vielfalt bei künftigen ökonomischen Entscheidungen besser berücksichtigt werden. Bei der Weltnaturkonferenz COP 16 in Cali wurde eine Arbeitsgruppe unter Leitung Mexikos und Kolumbiens angestoßen, die sich mit dem Einbezug der biologischen Vielfalt in wirtschaftliche Prozesse beschäftigen soll.
Wissenschaftler drängen: jetzt umdenken
Für Wissenschaftler wie den Generaldirektor der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung in Frankfurt am Main, Klement Tockner, ist es in dieser Gemengelage unausweichlich, dass man wieder mehr Natur wagen müssten: "Gemeint ist damit, sogenannte naturbasierte Lösungen anzuwenden. Darunter versteht man Maßnahmen zum Schutz, zur nachhaltigen Bewirtschaftung und Wiederherstellung von Ökosystemen, die gleichzeitig dem menschlichen Wohlergehen, dem Klimaschutz und dem Schutz der biologischen Vielfalt dienen." Das kann das Renaturieren von Flüssen sein, das Wiedervernässen von Mooren oder der "Umbau" von Wäldern - alles Maßnahmen, die zugleich die Artenvielfalt schützen, die globale Erwärmung eindämmen und Ökosystemdienstleistungen weiterhin ermöglichen.
"Wir benötigen ein Problembewusstsein, wir benötigen Mut zum Handeln und wir benötigen auch eine Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Gesellschaft", betont der Leiter des Forschungsmuseums Koenig in Bonn, Bernhard Misof. Alle müssten an einem Strang ziehen. Nötig seien etwa nachhaltigere Lieferketten, Alternativen für naturschädliche Subventionen und mehr Geld für den Artenschutz. "Anders werden wir die Dinge nicht bewegen können", ist Misof überzeugt, und anders würden sich auch die Ökosystemdienstleistungen nicht dauerhaft aufrechterhalten - zum Nachteil der Menschen und der ganzen Erde.