COP28 in Dubai Wenn das Klima kippt
Kipppunkte werden von der Wissenschaft kontrovers diskutiert. Ein neuer Bericht fasst erstmals den aktuellen Stand zusammen und zeigt auch, wie Kipppunkte im Kampf gegen den Klimawandel helfen könnten.
Die Klimaforschung diskutiert seit den frühen 2000er-Jahren über Kipppunkte im Erdsystem - damals definierten Forscher um Johann Rockström und Timothy Lenton neun entsprechende Punkte, darunter das Abschmelzen der Eisschilde am Nord- und Südpol, die Abholzung des Amazonas-Regenwaldes oder das Erlahmen der thermohalinen Zirkulation - einer wichtigen Ozeanströmung.
Kippen sie, so das Konzept, sei diese Veränderung irreversibel. Das Bild einer auf dem Tisch stehenden Kaffeetasse wird gerne von der Klimaforschung dafür verwendet. Lange Zeit kann sie bis über den Tischrand geschoben werden, ohne dass sie herunterfällt. Irgendwann steht sie so weit über dem Tischrand, dass sie kippt und fällt.
Neuer Bericht zu Kipppunkten
Ein neuer Bericht, der "Global Tipping Points Report", fasst nun die Forschung der vergangenen Jahre zu Kipppunkten zusammen. Mehr als 200 Forschende aus 26 Ländern haben an dem Bericht mitgearbeitet. Das Projekt wurde von der Universität Exeter geleitet und vom "Bezos Earth Fund" mitfinanziert.
Die Autoren und Autorinnen stammen dabei nicht nur aus den Klimawissenschaften, sondern forschen auch zu sozialen Veränderungen. Deshalb zeigt der neue Bericht erstmals auch auf, wie sogenannte "positive" Kipppunkte dem Klimawandel entgegenwirken können. Das können zum Beispiel klimafreundliche Technologien und Verhaltensweisen sein, die sich - entsprechend der Kipppunkte-Theorie - ab einem bestimmten Punkt immer schneller verbreiten.
Die Erneuerbaren Energien haben dem Bericht zufolge diese Schwelle bereits erreicht, indem sie immer kosteneffizienter wurden. Weitere Beispiele für soziale Kippelemente sind die E-Mobilität und pflanzenbasierte Ernährung. Das passendere Bild hierfür seien eher die aufgereihten Domino-Steine. Kippt einer um, löst er kaskadenartige, womöglich positive Veränderungen aus, weil alle weiteren auch unaufhaltsam kippen.
Große Unsicherheit über Kipppunkte
Inwiefern sich Kipppunkte für die Kommunikation von Klimarisiken eignen, ist unter Forschenden umstritten. Denn schon über die Anzahl der Kipppunkte im Erdsystem ist die Wissenschaft uneins. Der neue Bericht benennt 25 Kipppunkte im Erdsystem, das Potsdamer Institut für Klimafolgenforschung (PIK) schreibt von 16 solcher Kipppunkte, bei manchen hat das Kippen regionale Konsequenzen bei anderen sind sie global. Die Helmholtz Klima Initiative nennt auf ihren Seiten 14.
Auch der Weltklimarat (IPCC) hatte in seinem vierten Sachstandsbericht 2007 versucht herauszustellen, was bereits über die Kipppunkte bekannt ist. Reto Knutti, Klimatologe an der ETH Zürich war einer der Autoren. Auch er sagt: "Es gab viele Unsicherheiten. Deshalb ist der Text dazu knappgehalten." Auch einer der bekanntesten Klimaforscher, Mojib Latif, Meteorologe und Ozeanograph vom GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung, betont: "Das Konzept der Kipppunkte ist nur so gut, wie auch seine Unsicherheit diskutiert wird."
Unsicherheit am Beispiel AMOC
Latif selbst hat die Atlantische Umwälzzirkulation (Atlantic Meridional Overturning Circulation, AMOC) erforscht. Ein Strömungssystem, zu dem auch der Golfstrom zählt, der als Warmwasserheizung Europas bekannt ist. Eine im Juli erschienene Studie aus Dänemark hatte prognostiziert, dass diese Umwälzung schon Mitte des Jahrhunderts kollabieren könnte. Anhand von Simulationsmodellen errechnete das Forschungsduo, dass ein Kippen mit einer 95-prozentigen Wahrscheinlichkeit zwischen 2025 und 2095 eintritt.
Zu der Studie befragt, äußerten sich andere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kritisch. Einer von ihnen ist Jochem Marotzke, Direktor am Max-Planck-Institut für Meteorologie in Hamburg. Nach eigener Aussage ist er einer der ersten Deutschen, der sich 1985 in seiner Doktorarbeit mit der Umwälzzirkulation beschäftigt hat: "Wir wissen nicht, woran wir bei der AMOC sind. Die Arbeit der Dänen ist ein Beispiel dafür, dass es bei der Kipppunkteforschung immer darauf ankommt, welche Annahmen getroffen werden." Auch andere Forschende betonen, die Aussage, dass die AMOC noch in diesem Jahrhundert kollabiert, sei nicht haltbar.
Sich bedingende Variablen
Der Weltklimarat geht mit hoher Wahrscheinlichkeit aber davon aus, dass sie sich bis zum Ende des Jahrhunderts abschwächt. In einem Aufsatz kam Latif 2017 zum gleichen Schluss. Er schrieb aber, wie stark dieses Abschwächen sein werde, sei davon abhängig, ob und wie schnell das Grönlandeis schmilzt. Latif benennt damit ein grundlegendes Problem der Kipppunkteforschung: Es gibt viele Variablen, die sich gegenseitig bedingen.
Vor allem bei Ökosystemen wie dem Amazonas-Regenwald sei das schwer in eine Gleichung zu packen, gibt auch Klimatologe Knutti zu bedenken. Mit steigender Temperatur verdunsten die Pflanzen im Regenwald mehr Wasser, das sei vorhersehbar. Doch wie verhält sich der Mensch, welche Flächen rodet er, welche Tierarten verschwinden, weil Lebensräume fehlen, und inwiefern wirkt sich das auf die Stabilität des Amazonas aus? Auch das PIK schreibt von einer teils unklaren Studienlage in einer für das Weltklima bedeutenden Region.
Fehlende Daten und Technik
Ein weiteres Problem der Kipppunkteforschung seien fehlende Daten, so Knutti. Tatsächlich, zu dem Schluss kommt Klimatologe Latif, habe sich seit dem Einsatz der Driftbojen (ARGO Floats) im Jahr 2000 und gut platzierten Strömungsobservatorien seit 1995 die Datenlage zwar kontinuierlich verbessert. Doch die Beobachtung des Ozeans sei aufwändig und teuer. Das Eis um die Polkappen herum wird häufig anhand von Satelliten beobachtet. Auch stützen sich Studien auf Meerestemperaturen. Um die Daten zusammenzuführen, braucht es Supercomputer mit hoher Rechenleistung.
Eisschmelze in Westantarktis und Grönland schon im Gange
Weitgehend einig sind sich Klimaforscherinnen und - forscher, dass sowohl der Grönländische Eisschild im Norden als auch die Westantarktis im Süden der Erde als kritische Regionen gelten. Denn mit wärmerer Atmosphäre, werden auch die Weltmeere wärmer. Das führt dazu, dass die ins Meer ragenden Ausläufer der Gletscher in der Westantarktis schmelzen, das Schelfeis.
Erst kürzlich kam eine britische Studie zum Schluss, dass für einen Teil des Schelfeises in der Westantarktis, der Amundsensee, der Kipppunkt schon erreicht ist. Auch das PIK schreibt, für einen Gletscher in der Amundsensee, den Thwaites-Gletscher könnte ein Kippen bereits unvermeidbar geworden sein. Denn ist der Schutzschild aus Schelfeis erst einmal weg, kommt auch der im Inland liegende Gletscher mit wärmerem Meer in Berührung und schmilzt.
Kippen werden wir erst erkennen, wenn es eintritt
Doch bis ein Kippen eintritt, so die Schätzungen, würden mindestens 500 bis 13.000 Jahre vergehen. Für menschliche Zeiträume seien diese Ergebnisse nur sehr schwer nachvollziehbar, betont Hermann Lotze-Campen, Leiter der Forschungsabteilung Klimaresilienz am PIK. Deshalb sei es wichtig zu verstehen: "Wann genau der Kipppunkt erreicht ist, wird man im Vorhinein nicht genau sagen können, sondern erst danach!" Klar sei aber: "Mit jedem Zehntel Grad steigt die Wahrscheinlichkeit, dass einer oder mehrere dieser Kipppunkte eintreten." Und das abzuwenden, sei extrem wichtig. Denn, das betont Knutti: "Es ist wie bei der Kaffeetasse, auch wenn wir nicht wissen, wann sie runterfällt. Wir wissen, was dann passiert: Sie zerbricht."
Konsequenzen des Kippens
Sollte der Westantarktische Eisschild durch diesen Prozess ganz verschwinden, kommt es zur sogenannten Eis-Albedo-Rückkopplung: Gibt es weniger oder gar keinen weißen Schnee und kein helles Eis mehr, wird weniger Sonnenlicht reflektiert, die dunkle Oberfläche darunter nimmt mehr Sonnenwärme auf. Das verstärkt die Eisschmelze, zusätzlich zur Erwärmung durch menschengemachte Treibhausgase.
Der Weltklimarat kommt zum Schluss, dass ein Abschmelzen des Eisschildes in der Westantarktis den weltweiten Meeresspiegel um mehr als drei Meter ansteigen lassen würde. Schmilzt das gesamte Grönländische Eis, wären es sieben Meter. Und beide Kipppunkte, der in Grönland und der in der Westantarktis, könnten bereits überschritten sein. Das PIK definiert sie für eine Erderwärmung zwischen 1,5 und drei Grad.
"Die Gesellschaft braucht Lösungen"
Doch trotz dieser Ergebnisse darf laut Marotzke nicht das Bild entstehen, dass nun das Klima "aus dem Ruder läuft und die Welt untergeht". Auch Latif betont: "Ab 1,5 Grad geht die Welt nicht unter." Panik sei kein guter Ratgeber. Denn selbst, wenn bald eine Erwärmung von 1,5 Grad erreicht wäre, sollte jedes Zehntel Grad darüber hinaus unbedingt vermeiden werden. Lotze-Campen betont: "Ich habe aber das Gefühl, viele nehmen das dann so wahr: Wir können ja eh nix mehr machen."
Aus diesem Grund lehnt auch Latif die Katastrophen-Kommunikation ab. Schon 1986 habe der "Spiegel" auf seinem Titel den Kölner Dom zur Hälfte im ansteigenden Meer gezeigt. Bildunterschrift: "Die Klima-Katastrophe". Und passiert sei seitdem nichts.
Auch die Autoren und Autorinnen des "Global Tipping Point Reports" betonen noch einmal, dass sowohl Politik als auch Forschung und Gesellschaft nun gemeinsam agieren muss. Im besten Fall könnten dadurch weitere positive Hebel zum Kippen in Bewegung gesetzt werden. Gerade die Unsicherheit zu der Frage, wann genau das Kippen eintritt, verlange das doch.
Latif betont: "Es ist so, wie wenn Sie im dichten Nebel auf der Autobahn fahren und irgendwo vor Ihnen ein Stau liegt, von dem Sie das Ende nicht kennen. Dann rasen Sie doch auch nicht einfach drauf los, als gebe es kein Morgen." Knutti sagt, die Forschung zu den Kipppunkten im Erdsystem sei zentral, ohne sie wären wir nicht, wo wir heute sind. Doch was die Gesellschaft brauche, seien Lösungen.