Temperaturrekord Warum erwärmt sich der Atlantik so stark?
Seit etwa drei Monaten sind die Wassertemperaturen im Nordatlantik extrem hoch. Steckt El Niño dahinter? Oder fehlender Saharasand? Wissenschaftler rätseln über die Gründe - sind aber sehr besorgt.
Der nördliche Atlantik erwärmt sich jeden Sommer - das ist klar. Doch so stark wie derzeit war die Erwärmung des Ozeans noch nie seit Beginn der Satellitenmessungen: Am 11. Juni lag der Durchschnittswert bei 22,7 Grad und damit 1,1 Grad über dem langjährigen Mittelwert der Jahre 1982 bis 2011. Das geht aus Daten des Climate Reanalyzer der Universität Maine hervor, die seit 1981 erhoben werden.
Doppelt außergewöhnlich
Auch der Deutsche Wetterdienst (DWD) greift auf diese Daten zurück. Der derzeitige Rekord sei in zweifacher Hinsicht außergewöhnlich, heißt es dort: "Zum einen ist es der Abstand zu den vorherigen Rekordhaltern. Zum anderen ist es die ungewöhnlich lange Dauer von mittlerweile knapp drei Monaten, in der die Temperatur über allen bisherigen Jahren liegt."
Das sieht auch der Physiker Anders Levermann, Leiter der Abteilung Komplexitätsforschung am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, so: "Das ist wirklich absolut außergewöhnlich. Auch wenn es sich leider in einen langjährigen globalen Trend der Erwärmung einbettet." Auch international ruft die Anomalie große Besorgnis hervor.
Sahara-Sand als Grund?
Doch was steckt hinter der sogenannten North Atlantic sea surface temperature anomaly? Darüber gibt es unter Wissenschaftlern unterschiedliche Hypothesen. Eine mögliche Erklärung ist Sahara-Sand, beziehungsweise dessen Abwesenheit.
Der Sand oder Staub der nordafrikanischen Wüste ist so fein, dass er mit Winden Tausende Kilometer weit getragen werden kann. "Der Sand in der Luft legt quasi einen leichten Schatten auf die Meeresoberfläche und reduziert so die Sonnenernergie, die dort ankommt", sagt Levermann. Doch in diesem Jahr ist offenbar weniger Sand in der Atmosphäre unterwegs. Das führt dazu, dass mehr Sonnenstrahlung das Meer erreicht und dieses sich in der Folge stärker erwärmt. Diese These vertritt vor allem der Meteorologe und Klimaforscher Michael Mann von der Pennsylvania State University.
Oder weniger Schwefelaerosole?
Auch ein Fehlen bestimmter Schwefelaerosole könnte eine Rolle spielen. Seit 2020 darf Treibstoff von Schiffen nur noch 0,5 statt 3,5 Prozent Schwefelanteile enthalten. Dadurch gelangen weniger dieser Moleküle - die ebenfalls einen dimmenden Effekt auf die Meeresoberflächen haben - in die Atmosphäre.
"Aerosole in der Luft können die Temperatur regional durchaus beeinflussen. Wie stark der Einfluss in dieser Situation ist, kann man aber zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht sagen. Dazu braucht es weitere Untersuchungen", so Levermann.
Weniger Wind
Eine weitere mögliche Erklärung für die Rekordtemperaturen ist laut DWD eine Verschiebung von Hoch- und Tiefdruckgebieten. Dadurch entsteht vereinfacht gesagt weniger Wind und dadurch auch weniger Seegang. Deshalb durchmischt sich das warme Oberflächenwasser weniger mit dem kälteren Wasser in der Tiefe.
Das hält auch der Ozeanograph Martin Visbeck vom GEOMAR Helmholtz Zentrum für Ozeanforschung Kiel für den wichtigsten Grund. "Wir sehen gerade eine Verschiebung der Windgebiete - auch nordatlantische Oszillation genannt. Dadurch sind die Passat- und die Westwinde, die normalerweise auch die Meeresoberfläche kühlen, schwächer als sonst."
Klimawandel als Haupttriebfeder
Das Phänomen an sich sei nicht neu. Es trifft aber auf einen immer wärmeren Planeten - und fällt aktuell mit dem Wetterphänomen El Niño zusammen. Das sorgt für komplexe Veränderungen der Zirkulation in der Atmosphäre und global für höhere Temperaturen. "Wir haben einen langjährigen Trend der Erderwärmung. Wenn dann noch singuläre Ereignisse wie aktuell dazukommen, erleben wir eben schnell diese außergewöhnlich hohen Temperaturen", erklärt Visbeck.
Dem pflichtet auch Levermann bei: "Die wichtige, großskalige Änderung im Klimasystem, die wir kennen, ist die Erderwärmung. Die anderen verschiedenen Effekte kommen dann sozusagen noch obendrauf."
Probleme für Fische und Korallen
Doch welche Folgen haben die Rekordtemperaturen? Für die Ökosysteme im Nordatlantik könnten sie drastische Auswirkungen haben, sagt Visbeck. "Korallen und bestimmte Fischarten dürften Probleme bekommen, etwa durch verstärkte Korallenbleiche. Bei einigen Fischen könnte es weniger Nachwuchs geben. Und einige Bestände könnten in kühlere Polarregionen abwandern, was wiederum dort Probleme verursachen kann."
Das Problem sei, dass Temperaturschwankungen im Meer generell viel geringer ausfallen als an Land. Ein Grad mehr als das langjährige Mittel sei daher eine enorme Abweichung. "Viele Arten sind sehr speziell auf einen bestimmten Lebensraum und Temperaturbereich angepasst. Für sie können solche drastischen Änderungen schwere Folgen haben", so Visbeck.
Heftigere Stürme?
Eine andere Folge könnten auch wir Menschen direkt zu spüren bekommen. Denn wärmere Ozeane bedeuten mehr Wasserdampf und mehr Energie in der Atmosphäre - zwei Zutaten für starke Stürme. Auch die Meeresregion vor der westafrikanischen Küste - wo die meisten Hurrikans entstehen - ist aktuell deutlich wärmer als normalerweise.
Und die Hurrikan-Saison beginnt gerade erst und dauert noch bis Ende November. "Zwar kann man nie die genaue Zahl oder Stärke der Hurrikans vorhersagen. Aber die Physik ist eindeutig: 90 Prozent der Erderwärmung wird von den Ozeanen aufgenommen. Damit stellen wir den tropischen Stürmen, wie Hurrikans und Taifunen, mehr Energie zu Verfügung und sie werden stärker", so Physiker Levermann.
El Niño "zerreißt" Stürme im Atlantik
Dennoch rechnet die amerikanische National Oceanic and Atmospheric Administration (NOAA) mit einer 40-prozentigen Wahrscheinlichkeit mit einer durchschnittlichen Hurrikan-Saison. Der Grund dafür ist wieder El Niño, wie Ozeanograph Visbeck erklärt: "Dadurch sind die Winde in größeren Höhen schneller als die in Oberflächennähe. Das aber 'zerreißt' die Stürme eher, weshalb sie tendenziell nicht so groß werden, wie sie könnten."
Auch in Europa könnten wir Folgen zu spüren bekommen. "Denn mit bis zu fünf Grad über normal hat sich die Wassertemperatur vor den West- und Südküsten Frankreichs gerade besonders stark erwärmt", sagt Helge Gößling, Klimaphysiker vom Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven. Die insgesamt warmen Wassertemperaturen im Nordatlantik könnten tendenziell zu einem heißeren Sommer in Mitteleuropa führen bis hinein in den August. Warme Luft nehme zudem mehr Wasser auf, das West- und Südwinde nach Europa tragen könnten. Das fördere Starkregenfälle.
Auch deshalb bereiten die aktuellen Temperaturrekorde den Wissenschaftlern Sorgen. "Als Klimaforscher wissen wir ja schon lange, dass solche Ereignisse immer heftiger werden", so Levermann. Es gebe aber noch Handlungsspielraum: "Wenn es uns gelingt, innerhalb der nächsten 20 Jahre die Energiewende zu schaffen und aufzuhören, Kohle, Öl und Gas zu verbrennen, können wir das Klima stabilisieren und weitere Temperaturrekorde in Grenzen halten."