Algerischer Schriftsteller Wie Boualem Sansal zwischen die Fronten geriet
Seit mehr als einem Monat befindet sich der renommierte algerisch-französische Schriftsteller Sansal in Algerien in Haft. Prominente Autoren fordern seine Freilassung. Wurde Sansal ein Interview zum Verhängnis?
Boualem Sansal wollte nach Hause, nach Boumerdès, einem Küstenort nahe Algier. 80 Jahre alt ist er, eine markante Erscheinung mit langem grauen Haar. Doch als der weltweit angesehene Schriftsteller am 16. November aus Frankreich kommend in Algier landete, wurde er verhaftet. Seitdem gibt es kein Lebenszeichen von ihm.
Sansal ist seit Jahrzehnten ein Grenzgänger zwischen Frankreich und Algerien, polarisiert in beiden Ländern mit seinen Ansichten zum Islam. Er lebte weiter in Algerien, obwohl seine Bücher dort zeitweise verboten waren, obwohl er immer wieder die Mächtigen kritisiert und vor den Gefahren des Islamismus gewarnt hat. Und obwohl viele seiner Kolleginnen und Kollegen längst nach Europa ausgewandert sind.
"Sie sagen, das ist ein blockiertes Land"
"Ich habe jetzt kein soziales Leben mehr, ich habe kaum noch ein Familienleben", sagte er schon vor zehn Jahren in einem Interview mit der ARD in seinem Arbeitszimmer. Die meisten seiner Freunde und Familienmitglieder seien wegen ihrer Kinder ausgewandert. "Sie sagen, in Algerien gibt es keine Zukunft, das ist ein blockiertes Land."
Der Staat tue alles, um zu verhindern, dass die Menschen miteinander diskutieren, so Sansal damals. Immer wieder hat er versucht, seine Landsleute genau dazu zu bringen, mit seinen Romanen, aber auch mit Essays und offenen Briefen.
"Eine der wichtigsten Stimmen der algerischen Literatur" - so würdigt der PEN Berlin Boualem Sansal.
Ein heikles Thema
Nun, nach seiner Verhaftung, diskutieren sie - über ihn selbst. Allerdings nicht auf den Straßen der Hauptstadt Algier. Zu heikel sei das Thema, heißt es in Algier häufig in diesen Tagen.
Es fehle generell in Algerien an Debatten, sagt der algerische Journalist Akram Kharief gegenüber tagesschau.de. Die Presse sei komplett gesteuert.
Die staatliche Nachrichtenagentur Algérie Press Service (APS) nennt Sansal einen "Pseudo-Intellektuellen, der von der extremen französischen Rechten verehrt wird". Das gesamte "anti-algerische und pro-zionistische Who-is-who von Paris" stehe hinter ihm.
Doppelter Tabubruch in Interview
Warum Sansal verhaftet wurde, hatte die Justiz nicht erklärt. Es heißt, der Vorwurf laute: Untergrabung der staatlichen Sicherheit.
Stein des Anstoßes dürfte ein Interview mit dem Medienportal Frontières gewesen sein, das der extremen Rechten Frankreichs nahestehen soll. Sansal hatte sich darin auf politisch extrem glattes Eis begeben. Im Interview deutete er Zweifel an den von der Kolonialmacht Frankreich festgelegten Grenzen Algeriens an. Der Westen Algeriens, gab er zu verstehen, sei vor der Kolonialisierung marokkanisch gewesen.
Heikel ist das wegen des andauernden Konflikts zwischen Algerien und Marokko um die Westsahara, in dem Algerien auf Seiten der Westsahara-Befreiungsfront Polisario steht. Und weil seit Kurzem der französische Präsident Emmanuel Macron in diesem Konflikt Marokko unterstützt.
Sansal landete also mit seiner Aussage gleich zwischen zwei Polit-Fronten: Algerien-Frankreich und Algerien-Marokko.
Der Konflikt um Westsahara ist weitgehend aus den Schlagzeilen verschwunden. Für Marokko, das Anspruch auf das gesamte Gebiet erhebt und Algerien, das die Bewegung Frente Polisario unterstützt, bleibt das Thema aber brisant.
Kaum öffentliche Unterstützung in Algerien
Öffentlich hat Sansal kaum Fürsprecher in Algerien. Auch in den sozialen Medien kommt er in vielen Posts schlecht weg. Journalist Akram Kharief findet Sansals Aussagen "falsch und revisionistisch". Dass sie auch noch in einem "rechtsextremen, islamophoben Medium" veröffentlicht wurden, mache sie zu einer unnötigen Provokation.
Aber: Aus Khariefs Sicht handelt es sich um Sansals persönliche Meinung. Und der Autor sei kein Historiker, insofern solle er nicht streng bestraft werden.
Menschenrechtler kritisieren Einschränkungen der Meinungsfreiheit in Algerien. Bei dieser Demonstration im Jahr 2021 für politische Reformen kam zu zu Zusammenstößen zwischen Demonstranten und der Polizei.
Aufruf zur Solidarität
Internationale Schriftsteller und Schriftstellerinnen zeigen deshalb ihre Solidarität mit Sansal: "Wegen seiner Meinung darf kein Schriftsteller eingesperrt werden. Wir verlangen seine sofortige Freilassung!", so steht es in ihrem Apell, der jetzt auch in deutschen Buchhandlungen ausliegt. Unterzeichnet haben namhafte Kolleginnen wie Salman Rushdie, Daniel Kehlmann oder Orhan Pamuk.
Seit seinem ersten, 1999 erschienen Roman "Der Schwur der Barbaren" gilt der auf Französisch schreibende Sansal als einer der bedeutendsten Autoren der algerischen Gegenwartsliteratur. In Deutschland erhielt er 2011 den Friedenspreis des deutschen Buchhandels.
Die Jury lobte ihn als "leidenschaftlichen Erzähler", der "gegen jede Form von doktrinärer Verblendung, Terror und politischer Willkür eintrete". In Frankreich organisierten in der vergangenen Woche Freunde und Kollegen Sansals ein Solidaritätsfest, die Stadt Perpignan machte ihn kurzerhand zum Ehrenbürger.
Das Magazin Frontières wird in Frankreich der extremen Rechten zugeordnet. Ein Interview Sansals könnte der Anlass für die Verhaftung gewesen sein. (Screenshot)
Politische Debatte mit Risiko
Eine laute politische Diskussion ist hingegen weitestgehend ausgeblieben. Sansals französischer Anwalt François Zimeray, der zur Haftprüfung nicht nach Algerien einreisen durfte, warnt geradezu davor, angesichts des "äußerst sensiblen Kontextes". Sansal würde bei einer direkten Einmischung französischer Behörden "eher verlieren", sagte er bei einer Pressekonferenz gemeinsam mit Sansals Verleger in Frankreich.
Schweigen sei womöglich besser. Der Anwalt sorgt sich um seinen Klienten, auch weil er medizinische Hilfe benötige.
Der Journalist Kharief wagt keine Prognose, wie der Fall Sansal ausgehen könnte. Ob Freilassung oder Verurteilung - Algerien werde unter den Folgen leiden, sagt er gegenüber tagesschau.de. "Leider hat die Justiz in der Vergangenheit einige Personen, die polemisch waren oder nicht den Thesen der Staatsmacht folgten, hart bestraft."
Und Sansal selbst? Die algerische Justiz informiert weiter äußerst spärlich. Über seinen Aufenthaltsort ebenso wenig wie über den Gesundheitszustand des 80-Jährigen. Zuletzt hieß es, er sei in eine Krankenstation verlegt worden.