Spanien Niemand will an der Flutkatastrophe schuld sein
Wie konnte es zu der Flutkatastrophe in der Region Valencia kommen? Zwei Wochen danach sind viele Fragen immer noch unbeantwortet. Die Bürger räumen weiter Schutt und Schlamm weg und schauen mit Sorge auf den Wetterbericht.
Antonio del Campo bekommt jedes mal Gänsehaut und wackelige Knie, wenn er das Video sieht, das er in der Katastrophennacht mit seinem Handy gedreht hat: Zu sehen ist sein vom Wasser verwüstetes Elektrogeschäft in Catarroja bei Valencia. Alle Möbel liegen verstreut im Wasser. Das Wasser steht zwei Meter hoch, er selbst hat sich auf eine Leiter gerettet und steckt zwischen Ladendecke und oberster Leiterstufe.
Sechs Stunden harrten er und sein Mitarbeiter auf einer zweiten Leiter so aus. Ein zuvor gedrehtes Video zeigt, wie aus der Straße vor dem Laden ein Fluss wird, die Ladentür sich nicht mehr öffnen lässt.
19.32 Uhr war sie da. Die Warn-SMS von der Generalitat, der Regionalregierung Valencias kam erst später. Zu spät.
Erst kam das Wasser, dann die Warnung
Viele Menschen im Katastrophengebiet erlebten den Zeitablauf ähnlich wie del Campo: Erst kam das Wasser, dann die Warnung. "Wir sind wütend, weil uns niemand gewarnt hat", sagt der Nachbar Edison Tanata.
Seine Bar stand auch voll Wasser. Gegen die Naturgewalt könne man nichts tun, meint er, aber die vielen Toten hätten vermieden werden können.
Ist das so? Die Rekonstruktion der Ereignisse ergibt, dass offenbar Daten zu spät registriert oder zunächst fehlinterpretiert wurden.
Das verheerende Unwetter vom 29. Oktober hatte vor allem die Region Valencia im Osten Spaniens getroffen.
Erste Warnung am Morgen
Unstrittig ist, dass der staatliche Wetterdienst AEMET schon am frühen Morgen des 29. Oktober eine rote Warnmeldung herausgab, mit dem Hinweis, besser nicht zu verreisen. Um 9.24 Uhr empfahl AEMET auf dem Kurznachrichtendienst X, weiter aufmerksam die Vorhersagen zu beobachten und die Hinweise des Katastrophenschutzes zu beachten. Aber genau die fehlten.
Zuständig für den Katastrophenschutz ist die Regionalregierung. Die bekam nach Rekonstruktionen der beiden großen Tageszeitungen in Spanien im Laufe des 29. Oktober diverse Informationen vom für die dortigen Wasserstandsmessungen zuständigen Institut.
Das hatte drei Gewässer in mal mehr, mal weniger kritischem Zustand im Blick: den Fluß Poyo, den Rio Magro und den Forata-Stausee. Die erste Warn-E-Mail zum Poyo an die Generalitat kam bereits um elf Uhr vormittags.
Als dort zeitweise der Wasserstand sank, wurde über den Wasserabfluss informiert, dann konzentrierte man sich offenbar auf die anderen beiden Notlagen.
Wo war der Regionalpräsident?
Als um 17 Uhr der Koordinationsstab der Generalitat noch ohne den Regionalpräsidenten Carlos Mazón zusammentrat, waren die Wasserstände vielerorts bereits dramatisch. Mazón, so schreibt später die spanische Presse, sei bei einer Essensverabredung gewesen.
Auch am Poyo, der normalerweise ein Rinnsal in einem größtenteils ausgetrockneten Flussbett ist, stieg das Wasser in rasantem Tempo. Gegen 19 Uhr floss die extreme Menge von mehr als 2200 Kubikmetern pro Sekunde hindurch.
Im Laufe des Nachmittags gab es Warnungen von einzelnen Gemeinden per X oder auf den Homepages von Behörden, die Warn-SMS an alle Bürgerinnen und Bürger der Region Valencia kam jedoch erst kurz nach 20 Uhr.
In Paiporta bei Valencia sind die Folgen der Flutkatastrophe noch überall zu sehen.
Bürger sind sauer auf Politik
Die Wut über die Versäumnisse an diesem und den Folgetagen trieb am vergangenen Wochenende mehr als 100.000 Menschen auf die Straßen Valencias. "Mazón, tritt zurück", stand auf ihren Plakaten.
Aber sie sind auch sauer auf die Madrider Regierung. Die hätte den nationalen Notstand ausrufen und damit selbst aktiv werden können.
Stattdessen streiten sich seit Tag eins nach der Katastrophe die konservative Regional- und die sozialdemokratische Zentralregierung von Ministerpräsident Pedro Sánchez darüber, wer schuld ist am schlechten Krisenmanagement.
Dazu gehört auch, dass zu spät mehr Soldaten angefordert wurden. Mancherorts klagten Betroffene zehn Tage nach der Katastrophe noch, sie hätten noch keine Soldaten zu sehen bekommen. Zum Glück seien die vielen engagierten Freiwilligen da.
Zu Tausenden pilgerten die bereits zwei Tage nach der Flut zu Fuß mit Putzzeug und Lebensmitteln ins Krisengebiet. Die Hilfsbereitschaft dauert an - und so sind in vielen Orten des Krisengebiets deutliche Fortschritte bei den Aufräumarbeiten und auch immer mehr Soldatinnen und Soldaten zu sehen.
Politischer Streit wird nach Brüssel getragen
Aber es regnet wieder am Mittelmeer, teils bei gelber, teils bei orangener Warnstufe. Im Süden Málagas wurde sogar die höchste Unwetter-Warnstufe ausgerufen - dort hatten heftige Unwetter Straßen unter Wasser gesetzt. Und während viele Menschen sich fragen, ob das Warnsystem jetzt verbessert wird, streitet die Politik weiter.
Diese Woche sorgte Spaniens konservative Partido Popular (PP) gemeinsam mit Abgeordneten der Rechtspopulisten von Vox dafür, dass die designierte EU-Wettbewerbskommissarin, und Spaniens Umweltministerin Teresa Ribera zunächst nicht als Vizepräsidentin anerkannt wurde.
"Ich habe den Eindruck, dass wir in Europa ein erbärmliches Bild abgegeben haben", sagt Politikwissenschaftler Fernando Vallespin. Der in Spanien übliche heftige Streit zwischen den politischen Lagern habe im europäischen Parlament nichts zu suchen, dort solle man sich auf europäische Themen konzentrieren.
"Es wird zu viel Energie auf die politische Abrechnung verwandt. Ich glaube aber, dass dennoch alle Anstrengungen unternommen werden, um das Alarmsystem zu verbessern", so Vallespin gegenüber tagesschau.de.
Früher und besser warnen
Was dabei wichtig wäre, beschäftigt auch Meteorologen. Mar Gomez, Physikerin und Betreiberin eines Online-Wetterdienstes weist gegenüber tagesschau.de darauf hin, dass neben frühzeitigen Warnungen auch klare Anweisungen nötig seien.
"Wir sollten nicht nur sagen, dass sintflutartige Regenfälle kommen, sondern auch, was die Menschen tun sollen, ob sie etwa zu Hause bleiben oder nicht Auto fahren sollen."
Antonio del Campos Auto wurde am Tag der Katastrophe weggeschwemmt, wie so viele. Seinen Laden hat er mittlerweile einigermaßen entschlammt. An Wiedereröffnung ist noch nicht zu denken.
"Jetzt helfe ich meiner Gemeinde und der Schule meiner Kinder", sagt er, "damit sie so schnell wie möglich wieder ein normales Leben haben können, denn meine Kinder brauchen das und wir auch."