Regierungskandidat Massa Argentiniens politisches Chamäleon
Argentinien wählt heute einen neuen Präsidenten. Zur Wahl stehen Rechtspopulist Milei und Regierungskandidat Massa. Der ist als Wirtschaftsminister für die Krise mitverantwortlich - trotzdem kann er hoffen.
In der letzten TV-Debatte vor der Stichwahl ums Präsidentenamt in Argentinien ist der Ton rau. Auf der einen Seite steht der exzentrische Rechtspopulist Javier Milei, der sich selbst Anarcho-Kapitalist nennt, auf der anderen Seite Sergio Massa, der Kandidat der Peronisten, mit grauen Haaren, einem ordentlicher Anzug und Argentinien-Fähnchen am Couvert.
"Javier, du oder ich, darum geht es hier", sagt Massa. "Die Argentinier müssen sich entscheiden, wem sie das ausgewogene Handeln, die Fähigkeiten, das emotionale Gleichgewicht und den Realitätssinn zutrauen, Argentinien in Zukunft voranzubringen."
In der TV-Debatte setzte Wirtschaftsminister Massa auf Seriosität und grenzte sich damit vom Gegenkandidaten Milei ab.
Inflationsrate weit über 100 Prozent
Hast du diese Fähigkeit etwa, fragt Milei zurück - eine nicht ganz unberechtigte Frage. Schließlich ist Massa nicht irgendein Kandidat, er ist amtierender Wirtschaftsminister eines Landes, in dem die Inflationsrate aktuell bei 143 Prozent liegt und mehr als 40 Prozent unter der Armutsgrenze leben.
Seine Kandidatur bei diesen Wahlen hielten viele daher für komplett aussichtslos. Dann aber holte er beim ersten Durchlauf 37 Prozent und zieht nun mit erhobenem Kopf in die Stichwahl.
Wie ist das zu erklären? Massas Kandidatur würde ihn "nicht in Feierlaune" versetzen, sagt ein Mann auf der Straße, und erinnert an die wirtschaftliche Lage. Aber Milei sein nun einmal "ein Faschist, er will alles zerstören: öffentliche Bildung, Gesundheit - es ist eine lange Liste".
Eine Passantin räumt ein, sie verstehe schon, dass die "Illusionen", die Milei verspreche, verfangen, aber sie glaube, mit ihm werde alles nur schlimmer. Sie sei gewiss kein Fan von Massa, doch er sei wohl "die einzige Möglichkeit, um Argentinien vor dem Auseinanderbrechen zu bewahren".
Wenn der Gegner abschreckt
Massa, das kleinere Übel also. Und tatsächlich dürfte ihm vor allem in die Hände spielen, dass sein Gegner abschreckt: Milei, der gern mit Kettensäge auftritt, will den US-Dollar als Zahlungsmittel einführen, verteidigt den Handel mit Organen und nannte den argentinischen Papst einen Idioten. "Der Verrückte" lautet der Titel einer unautorisierten Biografie über Milei.
Demgegenüber gelang es Massa, sich als besonnener Staatsmann und pragmatischer Krisenmanager zu inszenieren. Er werde eine Regierung der nationalen Einheit einberufen und die "Besten und Kompetentesten" heranziehen, unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit.
Vertreter einer biegsamen Bewegung
Der 51-jährige Jurist gehört den regierenden Peronisten an. Jener populistischen Bewegung also, die sich auf Juan Domingo Perón und seine Frau Evita beruft und Argentiniens Politik seit Jahrzehnten dominiert - mal von links, mal von rechts. Ideologisch ist der Peronismus recht biegsam, es geht um Zugehörigkeit, um Verbundenheit und immer auch um Macht.
Nach seinem Sieg in der ersten Runde trat Massa bewusst allein auf die Bühne. Den unbeliebten Präsident Alberto Fernández, der sich seit Wochen nicht blicken lässt, erwähnte er mit keinem Wort. Genauso wenig die wegen Korruption zu sechs Jahren Haft verurteilte ex-Präsidentin und aktuelle Vize Cristina Kirchner, die für den linken Flügel des Peronismus steht, den sogenannten "Kirchnerismo".
Das "Chamäleon"
Massa geht bewusst auf Distanz, er weiß: Um die Stichwahl zu gewinnen, muss er Wähler im rechten Lager überzeugen. Dabei helfe es ihm, dass er innerhalb des Peronismus als Chamäleon gelte und quer durch alle Parteien gut vernetzt sei, sagt der politische Journalist und Massa-Biograf Diego Genoud.
Er nennt Massa einen "Karriere-Typ" mit 35 Jahren Erfahrung in der Politik "und dem unbedingten Willen, an die Macht zu kommen, egal wie". Massa komme eigentlich aus dem rechten Lager, habe aber die Fähigkeit, mit allen zu können, habe sowohl Bündnisse mit der Linksperonistin Kirchner als auch mit ihren politischen Gegnern schließen können.
Das mache ihn "unvorhersehbar, für manche auch wenig glaubwürdig". Während die Regierungskoalition praktisch auseinandergefallen sei, habe Massa nicht aufgegeben - "und jetzt hängt alles an ihm".
Einschnitte wohl unvermeidbar - nach der Wahl
Im Wahlkampf griff Massa angesichts der Krise nochmal tief in die Staatskasse, versprach Steuererleichterungen, Hilfsgelder und Subventionen für Arme, Alte und Arbeitslose. Doch, da sind sich Experten einig, auch ein Präsident Massa würde schmerzhaften Einschnitte vornehmen müssen.
Argentinien rückt bei diesen Wahlen nach rechts, egal wer gewinnt, sagt Genoud. Manche würde in dieser Situation sagen, es sei besser, wenn ein Peronist wie Massa den Rotstift ansetzt - einer, der die Fähigkeit habe, die Linken und die sozialen Bewegungen zu zähmen, so dass die Kürzungen ohne viel Konflikt auf der Straße durchgebracht werden: "Das ist die Wette."
Auch das gehört zum Bild vom kleineren Übel. Ob Massa damit auch die überzeugen kann, die im ersten Wahlgang zwar nicht für Milei, aber für einen moderaten Wandel gestimmt haben, wird sich an diesem Sonntag entscheiden.