Gewalt in Haiti Bandenboss "Barbecue" will Regierung stürzen
Haitis Banden machen inzwischen keinen Hehl mehr daraus, dass sie die Regierung vertreiben wollen - dazu haben sie sich sogar zusammengeschlossen. Ihre militärische Macht ist größer als die des Staats.
Während Regierungschef Ariel Henry versuchte, nach Haiti zurückzukehren, gab einer der wichtigsten Bandenchefs, Jimmy Cherizier, alias "Barbecue", am Dienstag ein zwanzig Minuten langes Interview im haitianischen Fernsehen.
"Wir als Vereinigung aller haitianischen Banden kämpfen darum, Premierminister Ariel Henry und das bestehende System so schnell wie möglich zu stürzen", erklärt Cherizier. "Um das Land zu bekommen, das wir wollen, ein Haiti mit Arbeit für alle, mit Sicherheit, mit kostenloser Bildung, ein Haiti ohne soziale Diskriminierung."
Kaum Unterstützung in Bevölkerung
Es klingt fast nach einer Befreiungsvision für ein seit Jahren von Hunger, Chaos und Korruption gebeuteltes Haiti - allerdings mit einem Bandenchef an der Spitze. Doch Cherizier, einem ehemaligen Polizeibeamten, werden schwere Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen, als sein Vorbild gibt er den einstigen Diktator François "Papa Doc" Duvalier an.
Die Menschen in Haiti sehen die Banden kaum als Befreier: Am Montag lynchten aufgebrachte Menschen einen berüchtigten Gangsterboss und schleiften anschließend seine Leiche durch die Straßen. Die Wut auf Politik wie Banden ist in Haiti überall spürbar. Aber die Stimmungslage in Haiti wird den Bandenkrieg nur schwerlich beenden.
Dass es ihm nur am Rande um das Wohlergehen der Bevölkerung geht, machte Bandenboss Cherizier in seinem Interview nur zu deutlich: "Wenn Ariel Henry nicht zurücktritt, wenn die internationale Gemeinschaft ihn weiterhin unterstützt, wird sie uns direkt in einen Bürgerkrieg führen, der in einem Völkermord enden wird."
Gewalt, Vertreibung, Mangel
Jean-Martin Bauer, Leiter des UN-Welternährungsprogramms in Haiti, beobachtet seit einigen Jahren, wie bewaffnete Gruppen versuchen, strategische Punkte wie Straßen und die Häfen von Port-au-Prince zu kontrollieren. In einem Interview mit Radio ICi Canada warnte Bauer, die Blockaden und Angriffe führten Haiti geradewegs in die Katastrophe.
Allein in den vergangenen Tagen gab es laut Bauer mehr als 15.000 Vertriebene. Die Menschen kämen wegen der Gewalt nicht mehr zur Arbeit, Ernten verrotteten, weil sie nicht auf den Markt gebracht werden können. Für fast eine halbe Million Menschen, sagt das UN-Welternährungsprogramm, sei die Ernährung nicht gesichert.
Nur eine internationale Sicherheitsmission nach Haiti zu entsenden, wie es der UN-Sicherheitsrat im Oktober beschlossen hatte, werde das Problem nicht lösen, sagt Bauer. Denn die humanitäre Krise sei ein Rezept für Instabilität und Chaos. Zur Stabilisierung des Landes müsse sichergestellt werden, dass die Menschen genug Nahrung haben.
"Cheriziers Drohungen ernst nehmen"
Die Drohungen von Bandenchef Cherizier seien sehr ernst zu nehmen, sagt Diego Da Rin von der Nichtregierungsorganisation International Crisis Group. Mittlerweile hätten einstmals rivalisierende Bandenkoalitionen einen Nichtangriffspakt geschlossen, um groß angelegte Angriffe gegen den Staat zu verüben. Den vorgeblich hehren Motiven des Bandenchefs schenkt Da Rin keinen Glauben. Die aktuellen, fulminanten Angriffe könnten anderen Zwecken dienen.
Es könnte der Versuch sein, die internationale Gemeinschaft davon abzuschrecken, eine Sicherheitsmission zu entsenden. Sie könnten aber auch eine Botschaft an die haitianischen Politiker sein, mit den Banden zu verhandeln. Denn sie verfügen mittlerweile über eine militärische Macht, die die Fähigkeiten der haitianischen Sicherheitskräfte übersteigt.
Bis zur Entsendung der UN-Sicherheitsmission könnte es noch Monate dauern. Daher müssten Haitis Politik und seine internationalen Partner schnell einen Plan B finden, sagt Da Rin. Es müsse verhindert werden, dass die Situation völlig außer Kontrolle gerät und die Drohung von Bandenchef Cherizier, eines opferreichen Bürgerkriegs in Haiti wahr wird.
Henrys demokratische Legitimierung ist mehr als umstritten, er regiert seit der Ermordung des haitianischen Präsidenten Jovenel Moïse vor fast drei Jahren ohne Parlament und Präsident. Kürzlich hatte Henry zugesagt, Wahlen abzuhalten, allerdings erst bis Mitte 2025.
Die USA und die Karibische Gemeinschaft Caricom forderten am Mittwoch, dass Henry "Zugeständnisse im Interesse des haitianischen Volkes" mache - und die Wahlen vorziehe. Zum Rücktritt drängten sie den Regierungschef allerdings nicht.