Humanitäre Lage in Afghanistan Hunger - trotz voller Regale
In Afghanistan mangelt es nicht an Lebensmitteln, dafür aber dramatisch an Geld. Caritas-Vertreter Recker erklärt, welche Hilfe das Land trotz seines fundamentalistischen Regimes jetzt braucht - und wie Geld ins Land kommt.
tagesschau.de: Hilfsorganisationen haben in den vergangenen Wochen immer wieder auf die Not in Afghanistan hingewiesen. Wie erleben Sie die humanitäre Lage im Land ein Jahr nach dem Sieg der Taliban?
Stefan Recker: Die humanitäre Lage in Afghanistan ist katastrophal. Ich mache diese Art von Arbeit seit mehr als 30 Jahren in unterschiedlichsten Krisen- und Konfliktregionen, davon 17 Jahre in Afghanistan. Ich habe selten so eine verzweifelte Lage gesehen. Den meisten Menschen in Afghanistan geht es wirtschaftlich schlecht. Es ist aber keine Nahrungsmittelkrise, sondern eine Kaufkraftkrise. Die Menschen haben kein Geld, um sich Nahrungsmittel zu kaufen - und die sind durchaus verfügbar. Das ist ein riesiges Problem.
Stefan Recker leitet seit 2014 die Vertretung von Caritas international in der afghanischen Hauptstadt Kabul. Der 57-Jährige kennt das Land wie nur wenige - insgesamt hat er seit 1995 mehr als 19 Jahre in dem Land gelebt und gearbeitet.
Wenn die Hilfsgelder ausbleiben
tagesschau.de: Worauf geht dieses Kaufkraftproblem zurück?
Recker: Afghanistan hing über die vergangenen 20 Jahre quasi an der Nabelschnur der internationalen Gemeinschaft. 70 Prozent der Staatsausgaben und 40 Prozent des Bruttosozialproduktes wurden von der internationalen Gemeinschaft bezahlt. Alle Transferleistungen und Gelder für wirtschaftliche Zusammenarbeit sind nach August vergangenen Jahres komplett weggefallen, weil niemand mehr diese Regierung unterstützen möchte. Es gibt nur noch die humanitäre Nothilfe wie zum Beispiel von Caritas International, dem Hilfswerk des deutschen Caritasverbandes. Wir verteilen Gelder und versuchen in Zusammenarbeit mit den anderen Hilfsorganisationen und den Vereinten Nationen die Not, soweit es geht, zu lindern,
tagesschau.de: Das heißt: Die Not geht quer durch alle gesellschaftlichen Gruppen und durch alle Regionen?
Recker: Ja, 95 Prozent der Bevölkerung haben massivste wirtschaftliche Probleme und mehr als 50 Prozent leiden Hunger.
tagesschau.de: Wenn mehr Geld da wäre, das verteilt werden könnte, wäre die Lage auch nicht so prekär?
Recker: Afghanistan hat immer schon Lebensmittel importiert, Grundnahrungsmittel wie Weizen oder Reis und höherwertige Nahrungsmittel wie Granatäpfel, Zwiebeln, Safran exportiert. Aber die 70 Prozent Afghanen, die in der Landwirtschaft tätig sind, sind von Importen von Düngemitteln oder Saatgut abhängig. Und das kommt nicht mehr ins Land rein. Die Menschen sind wirklich verzweifelt.
Partner unterstützen ohne Banken
tagesschau.de: Was können Sie in dieser Lage als Hilfsorganisation überhaupt tun?
Recker: Wir haben in Afghanistan weiter unsere eigenen Projekte im Bereich der sozialen Hilfe, für die Arbeit mit Drogenabhängigen, organisieren Hilfe für Minenopfer, für die Arbeit mit Frauen und Kindern oder Binnenflüchtlingen. Wir führen auch humanitäre Projekte durch, wo wir über unsere Partner an Hilfsbedürftige Geld verteilen. Die Banken sind zwar leider nicht funktional, aber wir haben Wege gefunden, wie wir in begrenztem Umfang Geld ins Land bekommen.
tagesschau.de: Wie stark ist der Einfluss der Taliban auf das, was Sie machen?
Recker: Afghanistan hat schon immer eine starke Bürokratie gehabt, die versucht hat, sich in jegliche Aktivität einzumischen. Bei der jetzigen Regierung kommt noch eine Menge Inkompetenz und Drohgebaren dazu. Aber wir arbeiten konsequent nur mit Partnerorganisationen, die lokal sehr gut vernetzt sind. Und die schaffen es durch zielorientierte Verhandlungen mit lokalen Behörden, dass Aktivitäten durchgeführt werden können. Es gibt Probleme, aber wir sind optimistisch, dass wir die Hilfsprojekte weiterhin durchführen können.
Heterogene Taliban
tagesschau.de: Was ist nach einem Jahr Taliban von dem geblieben, was zuvor an Chancen und Möglichkeiten für die Zivilgesellschaft da war?
Recker: Die Taliban von heute sind nicht die Taliban der 1990er-Jahre. Diese waren eine homogene Gruppe. Wenn die Führung etwas entschieden hatte, ging das durch bis auf die unteren Ebenen. Und wenn man sich über eine Aktion verständigt hatte, wurde das von allen Seiten respektiert. Heute ist das leider nicht mehr der Fall.
Die Taliban sind inzwischen sehr heterogen. Es gibt viele verschiedene Fraktionen, auch pragmatische, aber die meisten überbieten sich im Fundamentalismus. Allerdings haben sie an ihrer Außenwirkung gearbeitet, stellen sich nach außen besser dar, als sie nach innen agieren. Was die Zivilgesellschaft in Afghanistan betrifft, bin ich sehr pessimistisch geworden. Viele Menschen, die sich zivilgesellschaftlich engagiert haben, fliehen ins Ausland.
Wenig Hoffnung für Mädchen
tagesschau.de: Und wie steht es um die Bildungschancen von Mädchen?
Recker: Ganz schlecht. Momentan können Mädchen nur bis zur sechsten Klasse, also bis zum Alter von zwölf Jahren, Schulbildung genießen. Danach ist Schluss. Es gibt wohl geheime Schulen, von Privatpersonen versteckt eingerichtet, in denen ältere Mädchen unterrichtet werden.
tagesschau.de: Aber zu einem Bildungsabschluss führt das ja nicht.
Recker: Deshalb weiß man auch nicht, wie man das weiterführen kann. Noch können junge Frauen, die schon auf Universitäten sind, diese weiter besuchen - das lassen die Taliban zu. Wenn aber keine Absolventinnen von Gymnasien nachrücken, dann werden die Universitäten irgendwann austrocknen. Ich glaube, dass die Taliban es darauf anlegen.
tagesschau.de: Was bedeutet das dann zum Beispiel für das Gesundheitswesen, in dem viele Frauen beschäftigt waren, die die entsprechenden medizinischen Kenntnisse brauchen?
Recker: Ich weiß nicht, was der Plan der Taliban ist. Offenbar hat sich die Hardliner-Fraktion innerhalb der Taliban durchgesetzt, die überhaupt keine Bildung für Mädchen ab dem zwölften Lebensjahr wollen und die die Konsequenzen daraus interessieren sie erst einmal nicht.
Von Not- zu Übergangshilfe
tagesschau.de: Was erwarten Sie von der internationalen Gemeinschaft?
Recker: Staatliche bilaterale Entwicklungshilfe wird es zunächst einmal nicht geben, weil kein Land diese Regierung anerkennt - nicht einmal die Arabischen Emirate, Saudi-Arabien oder Pakistan. Wir müssen deshalb über eine Nothilfe reden, die die Menschen in die Lage versetzt, zu überleben. Und dann geht es mittelfristig um Übergangshilfe, mit der man versucht, eine lokale, grundlegende Wirtschaft zu schaffen, die den Menschen ermöglicht, ohne Hilfe von außen zu überleben. Aber das ist Zukunftsmusik und eine Perspektive von zwei bis fünf Jahren.
tagesschau.de: Und wie könnte so eine Übergangsphase in Gang kommen?
Recker: Indem man Kleinunternehmen dabei unterstützt, mehr Leute einzustellen, die jetzt auf der Straße stehen. Indem man Infrastrukturprogramme auflegt. Aber man muss zugleich aufpassen, dass man dadurch nicht die Taliban unterstützt, die es sich dann auf die Fahne schreiben, wenn irgendwo eine Straße gebaut wird. Das ist ein Balanceakt.
tagesschau.de: Am Ende bedeutet es aber, dass irgendwie Geld ins Land kommen muss.
Recker: Afghanistan ist seit jeher Nettoempfänger von Überweisungen von Exil-Afghanen, weil das Land nicht in der Lage ist, seine eigenen Menschen zu ernähren. Mittlerweile haben wir eine riesige Diaspora von Afghanen in Deutschland, die durch die Rücküberweisungen ganze Familien im Land am Leben erhalten. Es gibt da Systeme im islamischen Raum, die Geldüberweisungen auf informeller Ebene möglich machen. Aber das kann den Verlust an internationalen Geldern nicht wettmachen, der Afghanistan vor der Rückkehr der Taliban am Leben erhalten hat.
Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de