Nach Anschlag bei Moskau Was ist über die Terrorgruppe ISPK bekannt?
Mit dem Anschlag bei Moskau rückt die Terrorgruppe "Islamischer Staat" wieder in den Blick der Öffentlichkeit. Dabei warnen Experten schon seit Monaten vor dem Ableger "Provinz Khorasan".
Anders als die breite Öffentlichkeit in Deutschland haben Sicherheitsexperten weltweit die islamistische Terrororganisation "Islamischer Staat" (IS) nie aus dem Blick genommen: Nachdem ihr selbsternanntes Kalifat vor der Corona-Pandemie durch multinationale Militäreinsätze aus den Gebieten des Irak und Syriens herausgedrängt wurde, schien es einige Jahre lang kaum Terroranschläge zu geben, bei denen der IS glaubhaft die Täterschaft für sich beanspruchen konnte.
Wirklich zerschlagen war die Organisation aber nie: Schon 2015 trat die ein Jahr zuvor gegründete Regionalgruppierung "Islamischer Staat - Provinz Khorasan" (ISPK) in Afghanistan in Erscheinung, wo sie damals in den inzwischen an die Macht gekommenen Taliban ihren Hauptrivalen vorfand.
"Khorasan" ist die Bezeichnung für eine historische Region, zu der Gebiete der heutigen Staaten Afghanistan, des Iran, Turkmenistans und anderer Teile Zentralasiens gehörten - der IS nutzt diese Bezeichnung unter geschichtsrevisionistischen Vorzeichen, um sich in die Tradition einer religiös bedeutsamen Region zu setzen und dadurch zu legitimieren.
Besondere Schlagkraft
Die Schlagkraft der Gruppe ISPK stuften Beobachter schon länger als bedeutend ein. Seine "Flexibilität, Fähigkeit zur Anpassung und geographischen Umverortung" seien bemerkenswert, hielt Experte Antonio Giustozzi vom King's College in London in seinem im Februar veröffentlichten Aufsatz "Crisis and adaptation of the Islamic State in Khorasan" fest.
Giustozzi, der auch Autor eines 2018 erschienenen Buchs über den IS in "Khorasan" ist, schrieb der Subdivision zu, sie habe die Resilienz und Grundstruktur ihrer Mutterorganisation geerbt. In dem Aufsatz schreibt er ISPK eine hohe Effektivität bei der Verbreitung von Online-Propaganda und Nachwuchsgewinnung zu, wenngleich er Finanzierungsschwierigkeiten habe - denn die Bekämpfung und Verdrängung der Taliban aus Afghanistan als Ziel sei in den meisten anderen Ländern der Golfregion unpopulär.
"ISPK ist vermutlich der einzige IS-Ableger, der aktuell fähig wäre, im Westen einen großen, koordinierten Anschlag durchzuführen. Seine Motivation ist dabei nicht nur Ideologie, sondern auch - und vor allem - Vorherrschaft im dschihadistischen Lager", schrieb Terrorismusexperte Peter Neumann im Dezember 2023 auf X. Damals waren Berichte über Anschlagspläne rund um das Weihnachtsfest in mehreren europäischen Staaten bekannt geworden.
Rekrutierung in Afghanistan
Nachwuchs rekrutiert die Gruppe vor allem in Zentralasien - die Spur der Attentäter von Moskau führt ersten Erkenntnissen zufolge nach Tadschikistan, wo Perspektivlosigkeit und Unterdrückung des Islam junge Menschen radikalisieren - und Afghanistan. Experte Giustozzi zitiert in seinem Aufsatz einen ISPK-Kommandeur mit den Worten, Studenten der dortigen Religionsschulen seien ideologisch besonders gefestigt und könnten so "die Moral anderer Rekruten" steigern.
Über die Anzahl der ISPK-Mitglieder gehen die Angaben zwischen 1.500 und 6.000 auseinander - unter anderem deshalb, weil die UN-Berichte zur Entwicklung der Gruppe sich auf wechselnde Informationen der einzelnen Staaten beziehen.
Einig sind sich Experten allerdings in der Einschätzung, dass ISPK in seinen Aktivitäten anders als etwa die in Afrika aktiven vergleichbaren IS-Untergruppen nicht vorrangig darauf abzieht, Territorium zu erobern, sondern sich auf Anschläge im Ausland verlegt hat. Laut dem Washington Institute for Near-East Policy plante der ISPK 2023 insgesamt 21 Angriffe in neun verschiedenen Ländern.
Erst vor knapp einer Woche waren in Deutschland in Gera zwei Männer aus Afghanistan festgenommen worden, die einen islamistisch motivierten Anschlag auf das schwedische Parlament in Stockholm verabredet haben sollen.
Kurz vor Weihnachten gab es drei Festnahmen mutmaßlicher Anhänger der Gruppe in Österreich, die den Ermittlungen zufolge Weihnachtsmärkte und Silvesterfeiern angreifen wollten.
Anfang Januar hatte es bei einem Anschlag auf eine Gedenkfeier für den iranischen General Kassem Soleimani im Südosten des Landes viele 100 Tote gegeben - hier reklamierte ISPK die Täterschaft für sich.
Ressentiment gegen Moskau
Warum gerade Russlands Hauptstadt ein mutmaßliches Anschlagsziel des ISPK wurde, dazu nennen Experten mehrere mögliche Gründe. Zum einen setzt das von Wladimir Putin geprägte Eigenbild Russlands immer stärker auf den Mythos einer christlich-orthodox und ethnisch russisch geprägten "Zivilisation", der eine Sonderrolle in der Welt zukäme.
Antimuslimischer Rassismus gegen Menschen aus dem Kaukasus und Zentralasien - oder gegen Menschen, denen aufgrund ihres Aussehens diese Herkunft zugeschrieben wird - ist in der Bevölkerung weit verbreitet; auch eine Gleichsetzung des Islam mit Terrorgefahr ist von vielen nach Anschlägen innerhalb Russlands, etwa auf das Moskauer Dubrowka-Theater 2002, eine Schule in Beslan 2004 und auf die Moskauer Metro 2010, nie hinterfragt worden.
Als Russland sich 2015 militärisch an die Seite von Diktator Baschar al-Assad stellte, konnte dieser das syrische Staatsgebiet weitgehend zurückerobern - der IS wurde aus dem Land gedrängt und hegt nun Ressentiments gegen Moskau, das sein selbsternanntes Kalifat mitzerstört hat.
Verhältnis Moskaus zu Afghanistan
Zudem sieht sich der Kreml auch mehr als 30 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion in souveräne Staaten noch immer als eine Art Schutzmacht der zentralasiatischen Staaten, in denen ohne Moskaus Aufsicht und Eingreifen Unruhe herrsche - dieses Selbstverständnis wurde unter anderem 2022 bei der Niederschlagung der Unruhen in Kasachstan durch OVKS-Truppen sichtbar.
Das Verhältnis des Kreml zu den Taliban ist widersprüchlich: Einerseits sind sie in Russland eine verbotene Terrororganisation - und müssen bei jeder nachrichtlichen Nennung der Taliban in Staatsmedien so bezeichnet werden. Andererseits hatte die russische Führung noch vor dem Rückzug der USA aus Afghanistan 2021 die Taliban immer wieder zu Gesprächen getroffen und auch nach Moskau eingeladen.
Nach dem Fall Kabuls im Sommer 2021 unkte Moskau zunächst, man habe aus dem Afghanistan-Krieg der Sowjetunion gelernt, dass es zu nichts führe, sich in das Land zu tief einzumischen - und sei durch die Machtübernahme nicht allzu besorgt, da man bereits Kommunikationskanäle mit den Taliban eingerichtet habe. Wenn sich der Zorn Russlands nun auf den ISPK richtet, könnten die Folgen auch Afghanistan treffen.