Nach Ende der Waffenruhe "War klar, dass die Kämpfe wieder beginnen würden"
Dass die Feuerpause nur vorübergehend sein würde, war absehbar, sagt der Nahostexperte Steinberg. Die Geiselfreilassungen seien ein Erfolg der israelischen Strategie gewesen. Langfristig bleibe nur die Besetzung Gazas.
tagesschau.de: War es absehbar, dass die Waffenruhe nach ein paar Tagen enden würde?
Guido Steinberg: Es war keine Waffenruhe, die auf Dauer angelegt war. Es war klar, dass diese Waffenruhe die israelische Seite in ein Dilemma bringen würde. Dies lag an den widersprüchlichen Zielen, die Israel nach dem Angriff der Hamas benannt hat - die Zerschlagung der Hamas und gleichzeitig die Befreiung der Geiseln.
Die Waffenruhe war jetzt notwendig, um Geiseln zu befreien - hat aber gleichzeitig das übergeordnete Ziel - die Zerschlagung der Hamas - erschwert. Das heißt nicht, dass die Israelis für das Ende der Waffenruhe verantwortlich sind, aber es war klar, dass die Kämpfe nach ein paar Tagen wieder beginnen würden.
tagesschau.de: Und musste zugleich auf palästinensischer Seite nicht klar sein, dass der Anschlag in Jerusalem von Donnerstag und der Raketenangriff in der Nacht zu einer Gegenreaktion Israels führen würde?
Steinberg: Das hat nun den Anlass für eine Wiederaufnahme der Kämpfe geliefert, ist aber aus meiner Sicht nicht die Ursache.
Eine gespaltene Bilanz
tagesschau.de: In sieben Tagen Waffenruhe wurden mehr als 100 Geiseln befreit, sehr viel mehr palästinensische Häftlinge wurden aus den Gefängnissen entlassen. Wie fällt denn darüber hinaus die Bilanz dieser Tage aus?
Steinberg: Meine Bilanz dieser Tage ist sehr gespalten. Es ist eine sehr gute Nachricht, dass so viele Geiseln freigekommen sind. Aber es ist gleichzeitig bitter, dass sich noch so viele Geiseln in der Hand der Hamas befinden. Es ist bitter, dass die Kämpfe jetzt wieder beginnen - und damit auch das Sterben israelischer Soldaten und palästinensischer Zivilisten im Gazastreifen.
"Dieser Preis war es wert"
tagesschau.de: In Teilen der israelischen Regierung, seitens der extremen Rechten hatte es vor der Waffenpause Kritik an dem Deal gegeben. Er werde nur der Hamas nutzen, war der Vorwurf, weil sie sich dann reorganisieren könne. Hat sich das bewahrheitet?
Steinberg: Es ist schon sehr zynisch, dass gerade israelische Politiker sich dagegen wehren, eine Waffenruhe dazu zu nutzen, so viele Geiseln freizubekommen. Grundsätzlich ist jede Vereinbarung über eine Geiselfreilassung mit einer terroristischen Organisation mit gravierenden Nachteilen verbunden. Das Argument, dass die Hamas diese Waffenruhe wahrscheinlich dazu nutzen wird, sich neu zu organisieren, Befehlsketten wiederherzustellen und ihren Kämpfern ein bisschen Ruhe zu verschaffen, war immer stichhaltig.
Trotzdem bin ich der Meinung, dass dieser Preis es wert war. Wir müssen zudem immer im Hinterkopf behalten, dass diese Geiselbefreiung durch das sehr entschlossene und aggressive Vorgehen der israelischen Armee vorher möglich wurde. Insofern ist das auch ein Erfolg der Strategie der israelischen Regierung.
"Die Hamas untertreibt ihren Einfluss"
tagesschau.de: Können Sie sich vorstellen, dass es nach einer gewissen Phase wieder zu einer ähnlichen Pause kommt?
Steinberg: Das kann man nicht ausschließen, die Verhandlungen in Katar gehen ja offenbar weiter. Die Israelis wollen weitere Geiseln befreien, sie haben mit ihrem bisherigen Vorgehen Erfolg gehabt.
Die Hamas wiederum steht unter großem militärischen Druck und verfügt gleichzeitig noch über viele Geiseln.
tagesschau.de: Während der Verhandlungen über eine Verlängerung der Waffenruhe hieß es von der Hamas, sie könne demnächst keine Namenslisten mehr vorlegen, weil sie nicht alle Geiseln in ihrer Gewalt habe. Ist das glaubwürdig - erschwert es möglicherweise weitere Verhandlungen, weil man es mit unterschiedlichen Akteuren zu tun hat?
Steinberg: Ich glaube, dass die Hamas da ihren Einfluss untertreibt. Die Hamas war in der Lage, einen gemeinsamen Angriff auf Israel zu koordinieren, vor allem mit dem Islamischen Dschihad. Möglicherweise ist es im Moment etwas schwieriger geworden, sich mit den anderen Gruppierungen zu koordinieren.
Aber dass die Hamas so gar keinen Einfluss darauf haben soll, wie ihre Partner mit den Geiseln umgehen, halte ich für vorgeschoben. Da hat die Hamas versucht, die eigene Verhandlungsposition etwas zu verbessern.
"Welche Optionen gibt es für die Zeit danach?"
tagesschau.de: Nach mehreren Wochen Krieg und ein paar Tagen Waffenruhe: Ist Israels Ziel, die Hamas im Gazastreifen gänzlich zu vernichten, noch realistisch?
Steinberg: Solange die Hamas Geiseln in ihrer Gewalt hat, müssen die Israelis vorsichtiger vorgehen. Sie müssen gegebenenfalls auch mal wieder einer Waffenruhe zustimmen.
Aber eine Zerschlagung der militärischen Strukturen der Hamas ist weiterhin möglich. Aus meiner Sicht ist die Frage nicht, ob man die Hamas zerschlagen kann, sondern welche Optionen es für die Zeit nach diesem Krieg gibt.
"Es bleibt nur eine israelische Besetzung"
tagesschau.de: Hier ist Israel vorgeworfen worden, dazu keinen genauen Plan zu haben. Hat sich daran etwas geändert?
Steinberg: Ministerpräsident Benjamin Netanyahu hat klar gemacht, dass er eine fortgesetzte Verantwortung Israels für die Sicherheit des Gazastreifens sieht. Es wird also in irgendeiner Form auf eine Besetzung von zumindest Teilen des Gazastreifens hinauslaufen.
Die palästinensische Autonomieverwaltung ist vorerst nicht dazu bereit, unter den aktuellen Bedingungen den Gazastreifen zu übernehmen. Sie besteht darauf, dass eine Lösung für den Gazastreifen Teil eines größeren Friedensprojektes sein muss. Noch wichtiger aber ist, dass die Palästinenserregierung von Mahmud Abbas ohnehin viel zu schwach ist, um irgendeine Funktion im Gazastreifen zu übernehmen.
Und die dritte Variante, dass arabische Nachbarstaaten oder westliche Länder eine internationale Friedenstruppe stellen könnten, ist wenig realistisch. Länder wie Jordanien, Ägypten, die Vereinigten Arabischen Emirate oder Marokko wollen nicht in einen Kampf in Gaza hineingezogen werden.
Aus meiner Sicht bleibt deshalb nur eine israelische Besetzung des Gazastreifens - mit allen Folgen, die das haben kann, weil die Israelis selbst nicht so genau wissen, wie das funktionieren soll.
"Müssen damit rechnen, dass viele Geiseln zu Tode kommen"
tagesschau.de: Es sind ja vermutlich noch rund 140 Geiseln in Hand der Hamas und ihrer Verbündeten. Wenn man jetzt sieht, welches Erpressungspotenzial die Hamas damit noch hat, muss man dann nicht befürchten, dass einige vielleicht auch über die Militäraktion hinaus festgehalten werden, wo auch immer?
Steinberg: Es ist durchaus möglich, dass wir es mit einer längeren Geiselkrise zu tun bekommen. Wenn allerdings die Israelis ihre Ankündigungen wahr machen und den gesamten Gazastreifen wieder einnehmen, die gesamte Hamas zerschlagen, müssen wir eher damit rechnen, dass viele dieser Geiseln zu Tode kommen - sei es, weil sie von der Hamas ermordet werden oder sei es, dass sie bei israelischen Militäraktionen unbeabsichtigt zu Tode zu kommen.
Das Gespräch führte Eckart Aretz, tageschau.de