Justizreform in Israel "Wie ein Staatsstreich von oben"
Die Justizreform stürzt Israel in die größte Zerreißprobe seit Staatsgründung, sagt der Historiker Meron Mendel. Im Interview erklärt er, wer die Reform unterstützt - und warum der Weg in einen illiberalen Staat unumkehrbar sein könnte.
tagesschau.de: Was wird die jetzt beschlossene Gesetzesänderung - auch im Zusammenhang mit den anderen Teilen der Justizreform - ändern, was wird in Zukunft anders laufen?
Meron Mendel: Es geht um die Streichung der sogenannten Angemessenheitsklausel aus dem Gesetzbuch. Diese Klausel ermöglichte dem Obersten Gericht, Regierungsentscheide zu kippen, wenn sie unangemessen sind. In der Vergangenheit wurde sie angewendet, wenn zum Beispiel Frauen oder Minderheiten benachteiligt wurden, oder wenn Menschen mit Nähe zur Regierung ohne relevante Qualifikationen höhere Posten bekamen.
Wenn die Streichung - die übrigens noch vor dem Obersten Gericht Bestand haben muss - so in Kraft tritt, gibt es eine Art Freifahrtschein für Korruption in Israel. Die Gefahr der Korruption ist sehr real: Nicht umsonst steht der heutige Premier Benjamin Netanyahu wegen vier schwerwiegenden Korruptionsvorwürfen seit drei Jahren vor Gericht. Seine Regierung will jegliche Standards von Rechtsstaatlichkeit und Transparenz abschaffen, damit sie sich selbst und ihre politisch Verbündeten ungehindert aus der Staatskasse bedienen können.
Meron Mendel ist ein israelisch-deutscher Publizist und Historiker. Er ist Direktor der Bildungsstätte Anne Frank und Professor an der Frankfurt University of Applied Sciences. Sein Buch "Über Israel reden. Eine deutsche Debatte" wurde für den Deutschen Sachbuchpreis 2023 nominiert.
"Einzige Hürde vor unbegrenzter Macht"
tagesschau.de: Es ist also eine Entscheidung, die das politische System in Israel nachhaltig verändern kann?
Mendel: Eindeutig ja. Das hat sowohl eine reale Wirkung als auch eine Signalwirkung. Die reale Wirkung ist, dass es de facto in Fragen der Gleichberechtigung, Rechtsstaatlichkeit und Korruption keine effektive Kontrolle mehr über die Regierungshandlungen gibt. Israel hat keine Verfassung und kein föderales System. Die einzige Hürde für die unbegrenzte Macht einer Regierung ist die unabhängige und handlungsfähige Justiz. Und die Angemessenheitsklausel ist vielleicht das wichtigste Instrument der Justiz, um die Regierung zu kontrollieren und darauf zu achten, dass sie ihre Macht nicht missbraucht. Das ist auch der Grund, warum die Regierung so viel aufs Spiel setzt, um diese Gesetze über die Bühne zu bekommen. Das ist auch die Signalwirkung: Egal wie stark der Protest der Zivilgesellschaft ist - die Regierung setzt ihre Pläne durch, und alle die dagegen sind, werden aus dem Weg geräumt.
tagesschau.de: Steht damit das politische System insgesamt auf dem Spiel?
Mendel: Wir erleben ein Systemwechsel, weil die Justizreform in ihrer Gesamtheit - heute haben wir ja nur einen Schritt erlebt - einen Staatsstreich von oben darstellt. Das Gesamtvorhaben bedeutet, dass Israel aufhören wird, eine liberale Demokratie zu sein. Israel wird dann eine illiberale Demokratie nach dem Vorbild von Ungarn, Polen oder der Türkei. Die Teile der israelischen Gesellschaft, die für eine offene und gleichberechtigte Gesellschaft stehen, merken, dass alles, was in den vergangenen 75 Jahren aufgebaut wurde, über Bord geworfen wird.
"War vor der Parlamentswahl überhaupt kein Thema"
tagesschau.de: Nun ist die Regierung im vergangenen November gewählt worden. Gibt ihr das nicht das Mandat zu dieser Reform?
Mendel: Aktuelle Meinungsumfragen sagen, dass etwa 45 Prozent der Bevölkerung die Justizreform unterstützen und eine Mehrheit von etwa 55 Prozent der Wähler dagegen ist. Ebenfalls gehört zur Wahrheit, dass die Justizreform vor der letzten Parlamentswahl im vergangenen November überhaupt kein Thema war. Im Wahlkampf dominierten die Themen persönliche Sicherheit, wirtschaftliche Fragen oder das Vertrauen in die Führung von Netanyahu. Von einem Umbau der Justiz war keine Rede.
tagesschau.de: Was wünschen sich diejenigen, die die Justizreform unterstützen, von der Politik?
Mendel: Es kommen mehrere Interessen zusammen. Zum einen sind sie dagegen, dass das Oberste Gericht der Garant für Menschenrechte und gegen Diskriminierung ist - sowohl im Kernland Israel als auch in den besetzten Gebieten. Das hat vor allem die Siedlerbewegung gestört, denn das Oberste Gericht hat in der Vergangenheit beispielsweise immer wieder verhindert, dass palästinensischer Boden für den Siedlungsbau enteignet wird.
Rechte und fundamentalistische Juden wollen außerdem die Rechte der Araber mit israelischer Staatsangehörigkeit einschränken. Und es geht um das Thema Gleichberechtigung in der israelischen Gesellschaft, um Frauenrechte, um Rechte von LGBTQI-Menschen.
Der Schutz liberaler Werte durch das Gericht hat bisher verhindert, dass Israel zu einem fundamentalistisch-religiösen Staat wird. Und genau diese Schutzfunktion wollen die religiösen und fundamentalistischen Kräfte in der Gesellschaft nicht. Gerade hier wird die Ähnlichkeit zur Lage in Ungarn und Polen ziemlich deutlich. Dass das Thema Einschränkung der Meinungsfreiheit durch die Kontrolle über die öffentlich-rechtlichen Sender auch auf der Agenda der Regierung steht, passt auch zu diesem Bild.
"Es scheint, dass die Regierung diesen Schaden in Kauf nimmt"
tagesschau.de: Was kann die Protestbewegung jetzt noch ausrichten?
Mendel: Die Protestbewegung steckt in einem Dilemma. Seit Anfang des Jahres gehen Hunderttausende kontinuierlich auf die Straße und das ist sehr beeindruckend, wenn man bedenkt, wie diese Zahlen im Verhältnis zu der gesamten israelischen Bevölkerung stehen. Es hat sich aber gezeigt, dass sich die Regierung dadurch nicht davon abhalten lässt, ihre Pläne umzusetzen. Was bleibt ihnen also?
Es wird sehr viel auf das Mittel der Dienstverweigerung in die Armee gesetzt, vor allem der Kampfpiloten. Die israelische Luftwaffe hat nicht nur Berufssoldaten, sondern auch viele Reservisten, die manchmal ganze Monate im Militärdienst verbringen. Das sind Berufstätige, die den Dienst freiwillig machen. Jetzt haben mehrere Hundert von ihnen erklärt, dass sie ihren freiwilligen Reservedienst nicht mehr leisten, wenn die Justizreform verabschiedet wird. Werden sie aber die Drohung auch in die Realität umsetzen, wenn Israel von den Nachbarstaaten angegriffen wird? Vermutlich nicht. Das weiß auch die Regierung.
Es gibt Aufrufe zu zivilem Ungehorsam, es gab in den letzten Tagen auch Streiks in der freien Wirtschaft und in Krankenhäusern und Universitäten. Und es werden sich möglicherweise auch Menschen für die Auswanderung entscheiden. Vor allem jene, die im High-Tech Sektor arbeiten, für die es auch im Ausland attraktive Stellen gibt. Aber es scheint, dass die Regierung bereit ist, diesen Schaden für die nationale Sicherheit und für die Wirtschaft in Kauf zu nehmen.
"Basis der Verbundenheit wackelt massiv"
tagesschau.de: Könnte internationaler Druck etwas bewirken?
Mendel: Eine ganz wichtige Rolle kommt jetzt zuerst den USA als den wichtigsten Verbündeten Israels zu, dann der Europäischen Union. Sowohl die amerikanische als auch die deutsche Regierung heben die gemeinsame Werte stets hervor, die die Basis der Verbundenheit mit Israel sind. Das wackelt massiv. Es mag aktuell eher eine Wertegemeinschaft der israelischen Regierung mit Ungarn und Polen geben, aber nicht mit Deutschland. Die US-amerikanische Regierung hat klare Worte dazu gefunden: Präsident Joe Biden warnte davor, dass der Justizumbau einen negativen Einfluss auf die Beziehungen den Ländern haben wird.
tagesschau.de: Aber hat Netanyahu nicht auch das schon eingepreist? Die Beziehungen sind ja schon deutlich schlechter geworden.
Mendel: Vergessen Sie nicht, dass die USA Israel jährlich Militärhilfe in Milliardenhöhe zahlen und regelmäßig antiisraelische Resolutionen im UN-Sicherheitsrat mit ihrem Vetorecht verhindern. Es geht also um mehr als die Frage, ob Netanyahu von US-Präsident Biden ins Weiße Haus eingeladen wird. Wenn die USA tatsächlich zu der Erkenntnis kommen, dass Israel kein strategischer Verbündeter mehr ist, können die Konsequenzen für Israel weitreichend sein. Wenn eine liberale Demokratie sich in eine illiberale wandelt, müssen sich auch ihre Beziehungen zu den anderen Demokratien im Ausland ändern. Das wird Israel mittelfristig bevorstehen
"Risse in der Gesellschaft bewusst instrumentalisiert"
tagesschau.de: Sie beschreiben eine tiefe Spaltung der israelischen Gesellschaft. Ist sie überhaupt noch überbrückbar?
Mendel: Die israelische Gesellschaft war nie homogen und immer entlang religiöser, ethnischer und sozialer Linien gespalten. Vor allem war es die Bedrohung von außen, die die verschiedenen Teile der Gesellschaft zusammenhielt. Israel ist außerdem ein Land mit einer kurzen Geschichte, die Staatsgründung liegt erst 75 Jahre zurück. Das bedeutet, dass die sehr unterschiedlichen Teile, die aus verschiedenen Ländern zusammengekommen sind, noch nicht miteinander verwachsen konnten.
Diese Risse werden jetzt in aller Massivität sichtbar. Allerdings wurden sie von der Regierung auch bewusst für ihre politischen Ziele instrumentalisiert, dazu hat sie Spaltung und Gegnerschaft in der Gesellschaft angefeuert. Eine andere Führung hätte diese Konflikte konstruktiver regeln können. Die Gesellschaft steht vor der größten Zerreißprobe seit der Gründung des Staates Israel 1948.
Wir sehen zwar, dass die Mehrheit nicht auf der Seite der Regierung ist - und doch könnte der Prozess unumkehrbar sein. Illiberale Demokratien zeichnen sich dadurch aus, dass diejenigen, die an der Macht sind, die Regeln so setzen, dass sie de facto nicht mehr verlieren können. Deshalb kann es gut sein, dass Israel den Weg von Ungarn, Polen und der Türkei einschlägt. Das könnte zur Folge haben, dass ein Großteil der Eliten in absehbarer Zeit auswandert oder sich politisch zurückzieht und resigniert. Und der düstere Ausblick ist, dass Israel viel mehr wie seine arabischen Nachbarstaaten sein wird. Wenn die aktuelle Regierung ihre Pläne umsetzt, dann kann keine Rede mehr sein von Israel als "die einzige Demokratie im Nahen Osten".
Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de