Netanyahu zu Justizreform "Notwendiger demokratischer Schritt"
Israels Regierungschef Netanyahu hat die Verabschiedung eines Kernelements seiner Justizreform verteidigt. Nun könne im Sinne der Mehrheit der Bürger regiert werden, sagte er in einer Ansprache. Im ganzen Land demonstrierten wieder Tausende.
Nach dem Ja des israelischen Parlaments zu einem entscheidenden Teil der umstrittenen Justizreform hat sich Ministerpräsident Benjamin Netanyahu in einer Ansprache an die Bevölkerung gewandt - und das Votum verteidigt. Er sprach von einem "notwendigen demokratischen Schritt". Dieser ermögliche der gewählten Führung das Regieren im Sinne der Mehrheit der Bürger, sagte der Regierungschef.
Die Erfüllung des Wählerwillens sei "das Wesen der Demokratie" - und nicht ihr Ende. Umfragen zufolge sprachen sich zuletzt allerdings nur ein Viertel aller Israelis für die Umsetzung der Justizreform aus.
Netanyahu versprach, dass das Höchste Gericht Israels unabhängig bleiben werde. Den Dialog mit der Opposition wolle er fortsetzen, um einen Kompromiss zu finden. Obwohl er die Entscheidung der Knesset lobte, versprach er, "weiterhin nach Verhandlungen und dem Erreichen von Vereinbarungen zu streben".
Bereits in den kommenden Tagen werde seine Koalition Kontakt zur Opposition aufnehmen, um einen Dialog zu führen. "Wir sind bereit, alles sofort zu besprechen." Er hoffe auf eine Einigung Ende November.
Netanyahu wurde erst kurz vor der Abstimmung aus dem Krankenhaus entlassen. Dem 73-Jährigen war dort in der Nacht zum Sonntag kurzfristig ein Herzschrittmacher eingesetzt worden.
Nördlich von Tel Aviv: Auto rast in Menschenmenge
Nach der Abstimmung kam es vor dem Parlamentsgebäude in Jerusalem und im Zentrum von Tel Aviv erneut zu Massenprotesten. Tausende Menschen blockierten die Hauptverkehrsstraße durch Jerusalem und versammelten sich vor dem Parlament.
An Mauern und Zäunen entlang der Straße vor dem Höchsten Gericht, dem Büro des Regierungschefs und dem Parlament hingen Hunderte Aufkleber mit der Aufschrift "Wir dienen keinem Diktator", "Demokratie oder Rebellion" und "Rettet Israel vor Netanyahu". Die Polizei versuchte, die Menschenmenge mit Wasserwerfern zu vertreiben.
Bei einem Protestzug in einem Ort nördlich von Tel Aviv raste ein Auto in Demonstranten. Drei Menschen wurden verletzt, teilte die Polizei mit. Die Beamten nahmen den Fahrer, dessen Motiv am Abend zunächst unklar war, nach einer Fahndung fest. Die Demonstranten hatten eine Fahrbahn blockiert.
Ein Video im Netz zeigte, wie das Auto mit voller Wucht und ohne Rücksicht durch die Menschenmenge auf der Straße fuhr. Bereits in der Vergangenheit hatten wütende Autofahrer Demonstranten angefahren, die aus Protest gegen die umstrittene Justizreform Straßen versperrten.
Israel hat keine schriftliche Verfassung
Israels Parlament hatte zuvor ein Kernelement der umstrittenen Justizreform der Regierung Netanyahu verabschiedet. In einer hitzigen Sitzung skandierten Abgeordnete der Opposition "Schande" und verließen empört den Saal. Die verbliebenen Mitglieder der Kammer mit 120 Sitzen nahmen das Vorhaben mit 64 zu null Stimmen an. Damit kann das Höchste Gericht des Landes künftig Entscheidungen von Volksvertretern nicht länger auf deren "Angemessenheit" prüfen.
Das Gesetz ist Teil eines größeren Pakets und einer der umstrittensten Bestandteile der Justizreform. Der Staat Israel hat keine schriftliche Verfassung und fußt stattdessen auf einer Sammlung von Grundgesetzen. Daher kommt dem Höchsten Gericht eine besondere Bedeutung bei der Wahrung von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten zu.
Opposition kündigt Petition an
Nach der Abstimmung sagte Justizminister Jariv Levin, der Architekt des Plans, das Parlament habe den ersten Schritt in einem wichtigen historischen Prozess zur Reform des Justizwesens getan. Oppositionsführer Jair Lapid sprach dagegen von einem traurigen Tag. "Das ist kein Sieg für die Koalition. Das ist die Zerstörung der israelischen Demokratie", sagte er. Er kündigte an, am Dienstag beim Höchsten Gericht eine Petition gegen die "einseitige Aufhebung des demokratischen Charakters des Staates Israels" einreichen zu wollen
Die Nichtregierungsorganisation MQG verurteilte die Abstimmung und kündigte eine Klage gegen das neue Gesetz vor dem Höchsten Gericht an. Netanyahus extremistische Regierung zeige ihre Entschlossenheit, Millionen von Bürgern ihre Randgruppenideologie aufzuzwingen, teilte MQG mit. "Niemand kann das Ausmaß des Schadens und der sozialen Umwälzungen vorhersagen, die auf die Verabschiedung des Gesetzes folgen werden."
Gegen die Reformpläne gibt es seit Monaten Massenproteste im Land. Kritiker der Regierung sehen in dem Reformvorhaben einen Versuch, die demokratische Gewaltenteilung auszuhebeln und der Regierung willkürliche Entscheidungen zu ermöglichen. Die Regierung argumentiert, gewählte Volksvertreter müssten gegenüber einer übergriffigen Justiz gestärkt werden.
USA: Entscheidung ohne Opposition "bedauerlich"
Die USA kritisierten die Entscheidung des israelischen Parlaments. US-Präsident Joe Biden habe immer wieder deutlich zum Ausdruck gebracht, dass große Veränderungen in einer Demokratie einen möglichst breiten Konsens erforderten, um dauerhaft zu sein, teilte seine Sprecherin mit. Es sei "bedauerlich", dass das Votum "mit der geringstmöglichen Mehrheit" zustande gekommen sei.
Die US-Regierung gehe davon aus, dass es jetzt und in den kommenden Wochen und Monaten weiter Gespräche darüber gebe, wie ein umfassenderer Kompromiss gefunden werden könne, auch wenn die Knesset in der Pause sei. Die USA unterstützten die Bemühungen von Präsident Izchak Herzog und anderen Verantwortungsträgern, die durch politischen Dialog einen breiteren Konsens herstellen wollten.
Die Bundesregierung rief zum Dialog zwischen Regierung und Opposition auf. "Wir bedauern sehr, dass die Verhandlungen zwischen Regierung und Opposition unter Vermittlung von Staatspräsident Izchak Herzog vorerst gescheitert sind", hieß es aus dem Auswärtigen Amt in Berlin. "Gerade nach der heutigen Verabschiedung des ersten Teils des geplanten Justizumbaus bleibt es wichtig, dass einer breiten gesellschaftlichen Debatte ausreichend Zeit und Raum gegeben wird, um einen neuen Konsens zu ermöglichen", hieß es weiter.