Eine Million Vertriebene "Die Situation im Libanon ist katastrophal"
Die israelischen Angriffe gegen die Hisbollah im Libanon treffen auch Zivilisten. Wer fliehen kann, flieht - auch ins Bürgerkriegsland Syrien. Im Libanon fehlt es an allem für die eine Million Vertriebenen.
Sarg reiht sich an Sarg in einer Trauerhalle in der libanesischen Stadt Sidon. Bilder der Nachrichtenagentur Reuters zeigen, wie Angehörige weinend Abschied von ihren Liebsten nehmen. "Bitte verzeih mir", ruft ein Mann schluchzend und beugt sich über einen schwarz verhüllten Leichnam. "Bitte verzeih mir, dass ich dich nicht beschützen konnte."
"Hab' keine Angst"
Das Leid im Libanon wirkt grenzenlos. Denn bei den israelischen Luftangriffen sterben nicht nur Hisbollah-Kämpfer. "Wir saßen gerade beim Essen zusammen", erzählt Abdulhamid. Dann seien die Kampfflugzeuge gekommen. "Meine Tochter saß neben mir, ich streichelte sie und sagte: 'Hab' keine Angst'. Ich hätte nie gedacht, dass sie unser Gebäude bombardieren." Aber er habe seine Tochter nicht beschützen können. "Mein Sohn und ich sind lebend rausgekommen, aber meine Tochter und meine Frau sind tot und wir sind obdachlos - mein ganzes Leben ist binnen einer Sekunde ein anderes."
Für rund eine Million Menschen im Libanon hat sich das Leben von einem Moment auf den anderen geändert. Sie alle sind auf der Flucht vor der Gewalt.
"Wir brauchen eine Waffenruhe"
Die neueste Eskalation durch den iranischen Angriff auf Israel beunruhigt die Menschen zusätzlich, denn auch das könnte sich unmittelbar auf den Libanon auswirken. Und jetzt schon ist das Land mit der schieren Masse an Vertriebenen völlig überfordert, sagt Maya Andari von der Hilfsorganisation Care in Beirut. "Die Situation im Libanon ist katastrophal. Wir haben eine Million Vertriebene. Wir brauchen dringend Unterstützung von der internationalen Gemeinschaft." Die finanziellen Mittel reichten nicht, der Bedarf steige jeden Tag, jeden Moment. "Die meisten Menschen, die hier vertrieben, verletzt oder getötet wurden, sind Zivilisten. Zivilisten müssen geschützt werden. Wir brauchen dringend eine Waffenruhe."
Traumatisierte Menschen
Die Vereinten Nationen rufen zu Spenden für den Libanon auf, das Rote Kreuz spricht von einer humanitären Krise. "Die Menschen sind extrem traumatisiert", berichtet Andari. "Ich war gerade in einer Notunterkunft, und als ein Kampfflugzeug über uns die Schallmauer durchbrach und es knallte, schrien die Leute panisch auf. Die Menschen haben Angst. Sie können das Geräusch der Bomben nicht mehr ertragen.
Es fehle an den grundlegendsten Dingen: Essen, Wasser, warme Mahlzeiten, Hygieneartikel, Matratzen, Decken, Kleidung, einfach alles. "Menschen schlafen auf den Straßen, am Strand oder in ihren Autos, da die Notunterkünfte überfüllt sind."
Notunterkünfte am Strand von Beirut
"Kinder sterben"
So wie Zeina. Die junge Mutter schläft mit ihrer vierjährigen Tochter seit Tagen am Strand von Beirut. Der Wind fängt sich in den Plastikplanen eines notdürften Unterschlupfes. "Ich bin hierhin gekommen, weil es nirgendwo mehr einen freien Platz gibt", erzählt Zeina einem Reporter der Nachrichtenagentur Reuters. "Wir sind zu Notunterkünften in Schulen gegangen, aber es hieß immer, alles belegt, kein Platz mehr frei." Ihre kleine Tochter müsse jetzt auf einer Decke an der Strandpromenade schlafen. "Es gibt kein Kind, was unter diesen Umständen schlafen kann. Die Lage ist sehr schwierig. Kinder sterben, dabei können sie doch nichts dafür, sie sind nur Kinder."
Nach Angaben der Vereinten Nationen haben 100.000 Menschen vom Libanon aus bereits die Grenze zu Syrien passiert, darunter viele syrische Flüchtlinge, die zurück in ihre Heimat flüchten. Aber auch viele Libanesinnen und Libanesen. Menschen, die angesichts der Gewalt ins nächste Kriegsland fliehen - weil selbst Syrien momentan sicherer erscheint als der Libanon.