Zwei Frauen im ehemaligen syrischen Militärgefängnis Saidnaja
reportage

Foltergefängnis in Syrien Verzweifelte Suche am Ort des Grauens

Stand: 14.12.2024 10:43 Uhr

Angehörige suchen im berüchtigten Militärgefängnis Saidnaja nahe Damaskus nach Spuren ihrer vermissten Väter, Ehemänner, Brüder. In die Wut über den gestürzten Diktator Assad mischt sich die Hoffnung auf Lebenszeichen.

Kein Fenster, noch nicht mal eine Luke. Handy-Taschenlampen flackern wie Irrlichter in völliger Dunkelheit. Trümmer liegen auf dem Boden, es riecht nach Muff und Kot. Saidnaja, das wohl berüchtigste Foltergefängnis des syrischen Langzeitdiktators Bashar al-Assad - im Volksmund nur "das Schlachthaus" genannt. Zehntausende waren hier eingesperrt - zusammengepfercht in vergitterten Zellen wie Vieh, Dutzende sollen es pro Zelle gewesen sind.

Basil war 18 Jahre alt

Einer davon: der Bruder von Mohammed. Gerade mal 18 Jahre war Basil alt, als er verschwand - abgeholt von Assads Schergen. Warum? Mohammed zuckt mit den Schultern. "Er war doch erst 18", sagt er verzweifelt. Er habe noch alles vor sich gehabt: "Er war bei einer Demonstration. Wir wollten Freiheit, haben damals Freiheit gefordert. Er war doch noch jung, noch nicht erwachsen. Sie haben ihn mitgenommen. Das ist jetzt 14 Jahre her. Unserer Mutter geht es sehr schlecht, sie wurde krank vor Sorge."

Zweimal durfte die Familie Basil in Saidnaja besuchen. Fast hätten sie ihn nicht erkannt: "Seine Zähne waren ausgeschlagen, seine Augenbrauen ausgerissen, seine Haare rasiert. Er war sehr schwach und zitterte am ganzen Körper. Er wog über 100 Kilo, als er ins Gefängnis kam - jetzt waren es nur noch vielleicht 30."

Hoffnung, noch jemandem in den Zellen zu entdecken

Nach diesem Besuch hat Mohammed seinen Bruder nie wiedergesehen. Man habe ihm gesagt, Basil sei in einem Krankenhaus verstorben, erzählt er. Aber er mag das nicht glauben - sie haben keine Papiere bekommen, keinen Ausweis von ihm, nichts. Seit Tagen kommt Mohammed nun nach Saidnaja und sucht verzweifelt Gewissheit - irgendeinen Hinweis auf seinen Bruder.: "Ich hoffe so sehr, dass ich ihn finden kann. Bei Gott, ich werde überall Feiern veranstalten, ich werde durchdrehen, wenn sie hier einen jungen Mann lebend finden."

Die Hoffnung, dass noch lebende Insassen gefunden werden könnten, hält sie aufrecht -  die Angst, sie zu spät in den verwinkelten unterirdischen Zellen zu entdecken, lässt sie verzweifeln. Viele Angehörige sind an den Ort des Grauens gekommen - vielleicht auch aus Sehnsucht, dem Versuch, den vermissten Liebsten wenigstens räumlich nahe zu sein - auch wenn sie möglicherweise schon längst nicht mehr leben.

Menschen gehen in den Keller des berüchtigten Saidnaja-Militärgefängnisses nördlich von Damaskus.

Die Menschen kommen in der Hoffnung, noch lebende Insassen in den verwinkelten unterirdischen Zellen zu entdecken.

Tausende sind einfach verschwunden in den Jahren des Assad-Regimes - und niemand weiß, wo sie geblieben sind. Es soll Massenhinrichtungen gegeben haben. Die bange Frage, was mit ihnen geschehen ist, was sie erleiden mussten: Jedem Besucher stehen diese Fragen, die Trauer und Wut ins Gesicht geschrieben. Und es sind so viele, die gekommen sind. 

Verzweifelte Suche nach Namen

Der Boden im Erdgeschoss des Gefängnisses ist übersät mit Papierschnipseln, fast wie Konfetti der Befreier. Es sind die Reste handschriftlicher Aufzeichnungen, Listen, Namen. Überall wühlen Angehörige in den Papieren, suchen in den zerrissen Papierstücken verzweifelt den Namen, der für sie alles bedeutet: den ihres Vaters, Ehemanns, Bruders.

Maids und ihre Tante Mariam haben sich über eine Liste gebeugt, die sie in der Dunkelheit gefunden haben. Die 24-Jährige leuchtet mit der Handytaschenlampe, ihre alte Tante geht die Namen durch. Sie suchen Maids Vater: 

Es geschah 2013. Er war Lehrer und wurde auf dem Weg zur Arbeit verhaftet. Er wurde des Terrorismus beschuldigt, aber er hat doch niemandem etwas getan. Er war nicht politisch. Wir haben nie wieder etwas von ihm gehört. Wir haben überall nachgefragt, aber es hieß immer, sein Name existiere nicht. Er hat vier Töchter zurückgelassen, ich habe sie allein großgezogen.

Was sie hier suchen, ist Gewissheit

Maids bricht in Tränen aus. Sie war 13, als ihr Vater verschwand. Und sie kann sich noch gut an ihn erinnern. "Er war ein wunderbarer Mensch, alle liebten ihn, er war mittelgroß und blond - alle liebten ihn." Was sie hier suchen, ist Gewissheit, egal wie. Wenn es doch wenigstens eine Todesnachricht gäbe. "Wir hoffen ihn zu finden, lebend oder tot. Seit mehr als zehn Jahren hab ich nichts gehört - der Schmerz quält mich. Wenn er tot ist, können wir trauern. Aber vielleicht lebt er noch. Auch seine Töchter leiden unter diesen seelischen Qualen, sie fragen sich, ob sie ihren Papa noch einmal sehen werden und, wenn er gestorben ist, wie, unter welchen Umständen und warum."

Sie wolle abschließen können, sagt sie noch - auch deswegen ist sie gekommen. Dann höre das Herz auf zu brennen. Und dieser Ort, so sagen sie, sollte für immer vernichtet werden, damit nie wieder ein solches Gefängnis entsteht.

Tausende werden noch vermisst

Plötzlich werden draußen Stimmen laut. "Es gibt Neuigkeiten, hier weiß jemand was", ruft einen junger Mann aufgeregt und deutet auf ein Auto, dass sich nähert. Aufregt rennen Dutzende Männer los, umringen das Fahrzeug. Angeblich hat man einen Gefängniswärter gefunden, der weiß, wo noch Inhaftierte sein könnten.

Der wütende Mob verfolgt das Auto - der Gefängniswärter wird schnell weggebracht, sonst würde er gelyncht. Die neuen Machthaber Syriens haben bereits angekündigt: Assads Folterknechte sollen zur Rechenschaft gezogen werden. 

Kurz darauf Enttäuschung. Türkische Suchtrupps kommen mit Helmen und Mundschutz vom Einsatz zurück, sie haben niemanden gefunden. Tausende werden noch vermisst. Man munkelt, große Kühllaster seien in den vergangenen Tagen des Assad-Regimes vom Hof gefahren. Es riecht nach Leichen, um das Gebäude herum ist die Landschaft mit auffälligen Hügeln durchzogen. Niemand weiß, was noch alles gefunden wird. Die Aufarbeitung und Dokumentation des Grauens wird in Syrien noch lange dauern.

Assad soll vor den Internationalen Strafgerichtshof

Cihangir Samil Askeroglu will es trotzdem versuchen. Der türkische Anwalt arbeite unter anderem für die Nichtregierungsorganisation International Lawyers Organisation, berichtet er - und er hat ein großes Ziel: Er will Diktator Assad vor den Internationalen Strafgerichtshof (ICC) bringen. Wir treffen ihn im Zellentrakt: "Wir versuchen, hier in Saidnaja Dokumente zu sammeln, die Assads Schuld beweisen. Dann können wir es an den Internationalen Strafgerichtshof weitergeben. Es ist sehr schwierig, weil die Dokumente überall herumfliegen. Aber wir haben einige vom Boden aufgesammelt und werden sie auswerten, um zum ICC zu gehen.

In den ersten Tagen nach der Befreiung von Saidnaja wurde viel wichtiges Dokumentationsmaterial in Chaos und Aufregung vernichtet. Doch auch wenn die Aufgabe fast unmöglich erscheint, will der Anwalt es versuchen, Assad anzuklagen: "Es ist wichtig, die Gräueltaten zu dokumentieren - das ist historisch." Momentan sei Assad von Russland geschützt, aber die Lage könne sich ändern. "Wir wollen vorbereitet sein, um die Wahrheit des Assad Regimes zu zeigen."

Papierschnipsel auf dem Boden in Saidnaja in Syrien

Tausende Papierschnipsel, auf denen möglicherweise Hinweise auf Vermisste zu finden sind, werden aus dem ehemaligen Gefängnis herausgeweht.

Der Wind trägt die Namen davon

Aber wird die Aufarbeitung gelingen? Wie lange wirken Spitzelstaat und Willkürjustiz in Syrien nach? Und wie geht man um mit dem kollektiven Trauma der Angehörigen?

Mohammed, der seinen Bruder sucht, ist einen winzigen Schritt weitergekommen: Er hat den Namen des 18-Jährigen auf einer Transportliste gefunden - datiert Tage nachdem man der Familie gesagt hatte, sein Bruder sei tot. Heißt das, dass er noch lebt? Die Suche nach Mohammed wird weitergehen.

Draußen vor dem Gefängnis sitzt eine Frau auf einem Stein und starrt ins Leere. Um sie herum Tausende Papierschnipsel, herausgeweht aus dem Gefängnis, Namen stehen drauf. Der Wind trägt sie davon. Und damit für viele die Hoffnung, den Vater oder Ehemann doch noch zu finden.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 14. Dezember 2024 um 04:37 Uhr.