Ein Demonstrant steht auf einem Foto des gestürzten syrischen Präsidenten Bashar al-Assad vor dem syrischen Konsulat in Istanbul
interview

Assad gestürzt "Die Macht in Syrien muss geteilt werden"

Stand: 08.12.2024 11:30 Uhr

Nach dem Sturz Assads hoffen viele Menschen im Land auf einen geordneten Übergang und auf Gerechtigkeit, sagt die Syrien-Expertin Scheller. Der Sieg sei nicht nur von der Rebellengruppe HTS allein errungen worden. Deshalb müsse die Macht nun geteilt werden.

tagesschau24: Wie ist der schnelle Zusammenbruch des Regimes von Assad zu erklären?

Bente Scheller: Einerseits durch die mangelnde Unterstützung, die er gehabt hat. Die Bilder von russischen Schiffen, die den Hafen in Tartus verlassen, könnten kaum von stärkerer Symbolkraft sein, da sie zeigen, dass hier Russland als entscheidender Verbündeter Assad im Stich lässt.

Auch die Bekundungen, die wir in den vergangenen Tagen aus Iran und aus Moskau gehört haben, liefen alle darauf hinaus: Wenn Assad es nicht selbst schafft, können wir auch nicht wirklich unterstützen.

Wir haben aber auch eine Offensive der islamistischen Rebellen, die aus dem Norden die Entwicklung angestoßen und mit ihrer Offensive zunächst Aleppo erobert haben, was sehr wichtig war. Wir haben aber auch die Kurden im Osten und vor allen Dingen die Drusen aus dem Süden, die aktiv geworden sind, um auch aus ihren Regionen in Richtung Damaskus zu signalisieren: Es ist ein Widerstand des ganzen Landes, der sich regt.

Sendungsbild
Zur Person
Bente Scheller leitet seit 2019 das Referat Nahost und Nordafrika der Heinrich-Böll-Stiftung. Zuvor leitete sie für die Stiftung von 2012 bis 2019 das Regionalbüro Mittlerer Osten in Beirut und war von 2002 bis 2004 an der deutschen Botschaft in Damaskus Referentin für Terrorismusbekämpfung.

Hoffnung auf Ordnung und Gerechtigkeit

tagesschau24: Ministerpräsident Mohamed al-Dschalali spricht davon, einen geordneten Übergang zu ermöglichen. Er hält sich weiterhin in Damaskus auf. Wie könnte der Machtwechsel aussehen?

Scheller: Ich habe kurz vor unserem Gespräch Bilder gesehen, wie al-Dschalali von den Rebellen von seinem Amtssitz geleitet wird. Viele Syrerinnen und Syrer verbinden damit die große Hoffnung, dass es wirklich geordnet sein möge, geordnet als eine politische Übergabe, bei der Rache hinter Recht zurücksteht.

Dieser Wunsch nach Gerechtigkeit hat die ganze syrische Diaspora wie ein roter Faden, durchzogen. Sie schauen jetzt mit Argusaugen darauf, ob es zu Racheakten kommen wird und Justiz geübt wird, ohne dass es vorher ordentliche Verfahren gab. Wir hoffen, dass es ruhig bleibt, um weiteres Blutvergießen zu verhindern und das in geordneten Bahnen vonstatten geht.

Was im Schatten des Krieges vorbereitet wurde

tagesschau24: Dafür braucht es eine gewisse Einigkeit. Nun sind es viele Gruppen, die in Syrien theoretisch die Macht beanspruchen. Besteht die Chance, dass sie sich einigen und es friedlich bleibt?

Scheller: Die Chance sehe ich auf jeden Fall, denn sie haben in den letzten Jahren hier nicht Däumchen gedreht. Ich kenne viele, die daran gearbeitet haben, die an Prozessen beteiligt waren, die natürlich noch nicht auf die Übernahme der Regierungsgewalt in kurzer Zeit ausgerichtet waren, sondern eher langfristig angelegt hinter den Kulissen Verhandlungen geführt und Vertrauen aufgebaut haben.

Das halte ich für wichtig. Das ist etwas, was nicht nur in der Diaspora geschehen ist, sondern auch mit Beteiligten aus Syrien und in Syrien. Wir haben hier eine Weichenstellung, die zeigt: Im Schatten dieses brutalen Krieges ist auch ganz viel geschafft worden, und hoffentlich wird es möglich sein, darauf jetzt aufzubauen.

Welche Gruppen jetzt mitreden

tagesschau24: Wer wird in den kommenden Tagen bis Wochen aus den vielen Stimmen, die sich jetzt äußern, erst einmal das Sagen haben?

Scheller: Abu Muhammad al-Dscholani von der Gruppe HTS , der jetzt auch angefangen hat, seinen zivilen Namen zu benutzen, nämlich Ahmed al-Scharaa, ist natürlich in einer Machtposition dadurch, dass diese Offensive so stark durch ihn vorangetrieben worden ist. Aber auch die anderen Gruppen haben durchaus viel zu sagen. Im Süden des Landes, in Suwaida und in Daraa war es ja immer so, dass die Drusen auch weiterhin gegen Assad protestiert haben. Deswegen ist klar: Die Macht in Syrien muss geteilt werden.

Hoffnung, aber auch Angst

tagesschau24: In der weiten Fläche des Landes leben verschiedene Volksgruppen, verschiedene Ethnien, verschiedene Religionen. Drohen da weitere Konflikte?

Scheller: Selbstverständlich gibt es Konflikte, weil wir hier eine lange Historie der Unterdrückung und der Bevorteilung bestimmter Gruppen haben. Weil auch klar ist, dass manche sich an Massakern beteiligt haben und jetzt versuchen werden, nicht vor Gericht gestellt zu werden. Hier ist sehr viel aufzuarbeiten. Es sind 54 Jahre einer mit sehr, sehr harter Hand regierenden Diktatur und das kann man nicht in einem Moment vom Tisch wischen.

Es wird ein steiniger Weg. Aber die Ermutigung, die aus der bisherigen Entwicklung spricht, ist wichtig. Es gibt hier große Hoffnungen seitens der Syrerinnen und Syrer. Sie haben alle gemischte Gefühle. Ich kenne keine Person aus Syrien, die nicht auch Angst formuliert hat, aber zugleich auch unglaublich viel Hoffnung.

Hoffnung auf ein Wiedersehen mit Verschwundenen

tagesschau24: Angst und Hoffnung existieren nebeneinander. Wie reagiert nach Ihren Informationen die Bevölkerung?

Scheller: Ich sehe viele Bilder, aber spreche auch mit einigen Leuten in Syrien. Da ist Erleichterung und der Unglaube darüber, was passiert ist und wie schnell es passiert, groß. Die Bevölkerung hat in den vergangenen Jahren viel erlitten - Vertreibungen, Repressionen, Folter und vor allen Dingen auch Bangen um verschwundene Familienangehörige, Mehr als 100.000 Menschen sind in Syrien verschwunden, ohne dass ihre Familien wissen, wo sie sind.

Da ist jetzt ein Moment wirklicher Hoffnung, dass man auch diese wiedersehen wird und dass Menschen zurückkehren können. Viel ist politisch zu klären. Im Moment aber stehen die ersten Emotionen darüber, dass etwas geschehen ist, das viele sich überhaupt nicht vorstellen konnten, im Vordergrund.

Netzwerke sind erhalten geblieben

tagesschau24: Der Kampf gegen Assad ging schon seit Jahren. Viele Oppositionelle sind im Exil. Könnten diese Oppositionellen jetzt eingebunden werden für eine neue Regierung?

Scheller: Man muss sie gar nicht von außen einbinden. Sie sind schon sehr engagiert dabei, haben ihre Netzwerke in Syrien nie verloren. Es war nur so, dass die Kommunikation immer schwierig war, weil diejenigen, die weiterhin unter Assads Regierung gelebt haben, aber auch die in anderen Landesteilen unter Beobachtung standen und es entsprechend keine freie Kommunikation gab.

Aber auch bei denjenigen, die schon lange außerhalb des Landes sind, ist die Verbundenheit zu Syrien unglaublich groß geblieben und auch sie werden sich jetzt einbringen und engagieren mit all dem Wissen, das sie über die vergangenen Jahre angehäuft haben und mit all den politischen Vorstellungen, die sie zum Teil gemeinsam entwickelt haben.

Karte Syrien: Daraa, Damaskus, Homs, Hama, Aleppo

Wie blicken die Nachbarländer auf die Ereignisse?

tagesschau24: Syrien grenzt an den Irak, an die Türkei, Jordanien und an Israel. Wie werden diese Länder in der Region jetzt reagieren?

Scheller: Israel reagiert mit Vorsicht und hat seine Truppen auf dem Golan, der eben die Grenze zu Syrien darstellt und von dem Israel ja weiterhin einen Teil besetzt hält, verstärkt. Aus der Türkei hat Erdogan schon Hoffnungen formuliert, möglichst viele syrische Geflüchtete - und das sind in der Türkei etwa drei Millionen - zurückkehren zu lassen. Klar ist auch, dass er mit sehr großer Skepsis auf eine kurdische Autonomie blickt und auf alle Vorstellungen von einem föderalen Staat, die möglicherweise im Raum stehen.

Der Irak hatte ursprünglich angekündigt, Assad noch unterstützen zu wollen. Da werden die Beziehungen einen Neuanfang benötigen. Und letztlich ist da auch der Libanon. Viele Libanesinnen und Libanesen waren während der Kämpfe in ihrem Land nach Syrien geflohen. Jetzt gibt es Rückkehrbewegungen in beide Richtungen. Politisch ist der Libanon gerade sehr schwach und steckt in einer eigenen, tiefen Krise. Aber das Schicksal dieser beiden Länder war schon immer eng miteinander verzahnt. Sollte es in Syrien insbesondere zwischen den verschiedenen Konfessionen Auseinandersetzungen geben, wird das vor allem für den Libanon von Bedeutung sein.

Das Gespräch führte Ralph Baudach, tagesschau.de

Für die schriftliche Fassung wurde das Interview leicht angepasst.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete tagesschau24 am 08. Dezember 2024 um 09:00 Uhr.