Nach dem Erdbeben in der Türkei Alleingelassen auf Vermisstensuche
Auch Wochen nach dem verheerenden Erdbeben in der Türkei suchen etliche Menschen weiterhin nach Angehörigen. Offizielle Angaben, wie viele Menschen vermisst werden, gibt es nicht. Die Opposition macht der Regierung schwere Vorwürfe.
Salman läuft über den Bauschutt und weint. Anfang Februar stand hier in Kahramanmaras noch das Haus, in dem seine ältere Schwester mit ihrer Familie wohnte. Zum ersten Mal seit Wochen ist der 36-Jährige wieder hier, die Bilder der Erdbebennacht kommen hoch.
Er setzte sich damals sofort mit seiner Familie ins Auto, um nach seiner Schwester zu sehen. Als sie hier angekommen waren, hätten sie zuerst die Nachbarhäuser gesehen, die noch standen. "Wir waren schon erleichtert, und haben uns gesagt: 'Ich glaube, hier ist nichts'. Aber dann haben wir plötzlich gesehen, dass das Gebäude hier komplett eingestürzt war", sagt Salman.
Knapp zwei Wochen später fanden sie seine Schwester, ihren Mann und die beiden Töchter tot in den Trümmern - nur Mehmet nicht, den 13-jährigen Sohn. Tage später erklärten die Rettungskräfte, sie seien hier fertig.
"Wir sind zur Polizei gegangen und wollten eine Vermisstenanzeige machen", erzählt Salman. Da haben sie uns gesagt, so etwas gibt‘s nicht. Jeder würde gerade vermisst und keiner würde wissen, wann wer wo wieder auftaucht". Sie seien weinend gegangen.
Salman steht an der Stelle, wo einst das Haus mit der Wohnung seiner Schwester stand.
Blutproben für einen DNA-Abgleich
Während seiner Erzählung kämpft Salman wieder mit den Tränen. Der hochgewachsene kräftige Mann mit dem dunklen Vollbart wirkt erschöpft, neben ihm liegen ein Aktenordner und ein Schuh im Schutt. Sie haben hier auch den Vorhang von Mehmets Zimmer gefunden, er hatte das Motiv eines Istanbuler Fußballklubs, von dem er Fan war.
Die Familie gab Blutproben für einen DNA-Abgleich. "Als wir dafür zum Krankenhaus gefahren sind, war da eine lange Schlange mit Familien, die auch alle DNA-Proben abgeben wollten, weil sie ihre Kinder suchen", sagt Salman. Das sei nicht normal, dafür müsse es einen Verantwortlichen geben.
Opposition befürchtet Wahlmanipulation
Und es sind nicht nur Kinder, die vermisst werden, sagt Cem Yildiz, der Vorsitzende der oppositionellen CHP in Kahramanmaras. Seine Partei hat von sich aus eine Vermisstenliste angelegt, auch mit Blick auf die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am 14. Mai.
Yildiz sieht Raum für Wahlmanipulation: "Wurden diese vermissten Personen aus dem Wählerverzeichnis gestrichen? Wurden sie begraben? Wir versuchen, Tote zu identifizieren, das ist wichtig - auch weil wir der aktuellen politischen Macht absolut nicht trauen." Weil all das Spielraum lasse, dass Tote wählen könnten, müssten sie sich auch mit diesem Thema befassen.
Keine offizielle Vermisstenkartei
Die türkischen Behörden führen keine offizielle Vermisstenkartei. Das beschäftigt auch Salman, den Onkel des kleinen Mehmet. Er sitzt inzwischen im Schneidersitz im Zelt, in dem er mit seiner Frau und seinen Eltern seit dem Erdbeben haust.
Normalerweise spricht Salman sehr besonnen. Aber plötzlich mischt sich Wut in seine Stimme: "Da verschwinden so viele Kinder, sie sind nicht in den Trümmern, nicht im Krankenhaus. Wo sind sie? Wer ist verantwortlich? Keiner". Er macht eine verächtliche Handbewegung, presst die Lippen zusammen. "Man weiß, wer dafür verantwortlich ist, ich weiß, wir alle wissen es", sagt er. Salman muss an sich halten, um nicht noch deutlicher zu werden.
Bei vielen richtet sich die Wut gegen die türkische Regierung, diese habe beim Krisenmanagement versagt. Aber das bringt den kleinen Mehmet nicht zurück. Sein Onkel hält es für ausgeschlossen, dass der 13-Jährige in der Nacht des Erdbebens nicht zuhause war. "Ich vermute, dass sich alle von Anfang bis Ende geirrt haben. Er liegt auf dem Friedhof - und keiner kann ihn mehr identifizieren", so Salman.
Salman hält ein Handy mit dem Foto von Mehmet in den Händen.
"Nur das Grab von Mehmet ist noch leer"
Der Arzt Dogan Erogullari ist seit dem Erdbeben immer wieder draußen im Einsatz. Er hält es für möglich, dass der Junge anonym oder unter einem anderen Namen beerdigt wurde. Er rät Mehmets Familie: "Wenn ein Rettungsteam ein verwundetes Kind aus den Trümmern geholt hat, sollte man das Team und das Krankenhaus, in das es gebracht wurde, herauskriegen und auch, ob da ein Kind gestorben ist oder nicht. Denn es wurden von allen, die gestorben sind, Fotos gemacht bevor sie beerdigt wurden."
Aber woher soll Mehmets Familie die Kraft für eine solche Recherche nehmen? Salmans Frau Fatos hört ihrem Mann zu, hilft ihm mit Worten und Sätzen, wenn diese ihm fehlen. Auch sie hat Angehörige verloren. Es seien sieben Gräber ausgehoben worden. "Wir haben sie alle begraben, nur das Grab von Mehmet ist noch leer. Jedes Mal, wenn wir dahingehen und es leer sehen, kommt alles wieder hoch", sagt Fatos.
Sie holt ihr Handy raus und zeigt ein Foto. Darauf strahlt Mehmet im Trainingsanzug seines Lieblingsvereins. Sie brauchen einfach Gewissheit, erklärt Salman, um zu begreifen, dass es diesen Jungen voller Leben nicht mehr gibt.