Proteste in Belarus Die Zeit läuft gegen die Opposition
Der Druck auf das Regime Lukaschenko steigt von allen Seiten. Die Protestbewegung hat keine Angst vor einem Zugriff Russlands - doch gerade ihre bisherigen Stärken könnten ihr zum Nachteil werden.
Die EU erlässt Sanktionen gegen Belarus' bisherige Machtelite, in Staatsbetrieben streiken ganze Belegschaften, landesweit gehen Hunderttausende zu Protesten auf die Straße: Während der Druck auf Präsident Alexander Lukaschenko immer weiter steigt, scheint dieser seine Lage noch immer nicht zu begreifen und auf Zeit zu spielen. Mehr als eine Woche nach den Wahlen, bei denen er sich ungeachtet offenkundiger massiver Wahlfälschung zum Sieger erklären ließ, verweigert er dem neu gegründeten "Koordinierungsrat" aus oppositionellen Kräften jeden Dialog.
"Es sieht so aus, als verstehe er es nicht - oder stelle sich dem verzweifelt entgegen. Aber er hat mit all seinen Schritten immer genau das Gegenteil bewirkt", sagt Gwendolyn Sasse, Direktorin des Zentrums für Osteuropa- und Internationale Studien (ZOIS). Der Versuch, die oppositionellen Kandidatinnen als Heimchen am Herd zu diskreditieren, Demonstranten durch Misshandlungen im Gefängnis einzuschüchtern und eine Buskolonne aus Menschen vom Land als Solidaritätsdemonstration für sein Regime darzustellen - all das treibt die Menschen nur weiter auf die Straße. "Es wirkt wie sehr irrationale letzte Zuckungen eines autoritären Machthabers, der seine Legitimation verloren hat", beschreibt Sasse.
Kaum Angst vor Moskaus Zugriff
Zunehmend verbreiten sich auch Bilder, die zeigen, dass Lukaschenkos Machtapparat aus Geheimdienst, Sicherheitskräften und Beamten nicht mehr gegen das Volk eingreift - oder sich sogar offen auf die Seite der Demonstranten stellt. "Das sind Anzeichen dafür, dass auch dieser letzte, wichtige Pfeiler des Sicherheitsapprats Risse hat. Nur beim Militär wissen wir nicht, ob es weiterhin die Befehle Lukaschenkos ausführen würde", sagt Sasse.
Der Nachbarstaat Russland, mit dem Belarus ein Militärabkommen und gemeinsame Manöver verbinden, hat zwar Beistand im "Ernstfall" zugesichert. Doch die meisten Belarussen haben vor einem militärischen Eingreifen des Kremls keine Angst: "Die sehe ich ehrlich gesagt mehr in Deutschland", meint Olga Dryndova von der Forschungsstelle Osteuropa der Universität Bremen. "Ich kann nicht wissen, was im Kopf Wladimir Putins passiert, aber wenn ich logisch denke, sage ich: Es gibt keinerlei Grund dazu. Die Proteste sind weder prorussisch noch proeuropäisch - diese geopolitische Diskussion ist überhaupt nicht da."
Der belarussische Analyst Artjom Schraibman teilt diese Ansicht: "Russland rettet keine fallenden Regime durch Streitkräfte", schrieb er zugespitzt auf seinem Telegram-Kanal. "Die Führung hinausbefördern - ja, ein Regime retten, das keinerlei Unterstützung an der Basis mehr hat - nein."
Könnte die OSZE vermitteln?
In der belarussischen Bevölkerung ist das Verhältnis zu Russland positiv bis hinnehmend; eine vergleichbar starke Verbindung zur EU gibt es nicht - anders als in der Ukraine, in der 2013 das Scheitern eines Assoziierungsabkommens die Maidan-Proteste ausgelöst hatte. In Belarus warnte Oppositionskandidatin Maria Kolesnikowa sogar vor einem zu forschen Vorgehen Brüssels gegen das Regime.
Die EU ist deshalb aus der Sicht von ZOIS-Direktorin Sasse nur begrenzt in der Lage, Einfluss auszuüben. Denkbar sei ein Dialogprozess auf der Ebene der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), in der alle beteiligten Staaten gleichermaßen Mitglieder sind und die anders als die EU in Belarus und Russland nicht als Akteur mit machtpolitischen Eigeninteressen gebrandmarkt ist.
Die Zeit läuft gegen die Opposition
Entscheidender noch als der Druck von außen ist für die Zukunft von Belarus, wie die Opposition jetzt handelt - und ob es ihr gelingt, sich zu professionalisieren. Ein erster Schritt in diese Richtung ist die jüngst erfolgte Gründung des Koordinierungsrats.
Was die Oppositionsführerinnen und Demonstranten bislang zusammenhält, ist der Minimalkonsens: Lukaschenko hat die Wahl nicht gewonnen, er kann das Land nicht mehr führen und muss abtreten. Tichanowskajas Team war mit dem einzigen Versprechen angetreten, den Weg zu freien Neuwahlen zu bereiten. Dass sie selbst keine politischen Ambitionen zeigte, machte sie für viele Belarussen erst vertrauenswürdig.
Weg mit Lukaschenko: Die Botschaft auf dem Luftballon eines jungen Demonstranten in Minsk.
Für die Politologin Dryndova und die meisten Belarussen ist sie "eine Symbolfigur", keine Politikerin - und hat selbst nie wörtlich zu Protesten aufgerufen. "Das war erst ein Vorteil, weil die Behörden das Ganze nicht kontrollieren konnten. Vieles war spontan und von den Menschen vor Ort organisiert", sagt Dryndova. "Aber es kann natürlich auch langfristig zum Nachteil werden - denn die Menschen können ja nicht jeden Tag auf die Straße gehen."
Die Zeit ist also nicht auf der Seite der Opposition. Dass die Proteste und Streiks noch Monate andauern, schließt Dryndova aus: "Dazu ist die Wirtschaft einfach nicht in der Lage, dann gibt es das Land nicht mehr. Die meisten Belarussen haben keine großen Ersparnisse. Je länger alles dauert, desto größer ist der Schaden für sie."