Oppositionelle in Belarus Repressalien, die ins Leere laufen
Fast alle prominenten Vertreter der belarusischen Opposition sitzen in Haft oder wurden aus dem Land gedrängt. Was bedeutet das für die Zukunft der Protestbewegung? Zwei Experten sind optimistisch.
Verhaftet, ins Ausland gedrängt, stundenlang verschwunden: Führende prominente Akteure der belarusischen Opposition sahen sich nach kurzer Zeit mit dem Zugriff des Staatsapprats konfrontiert. Mit der Festnahme von Maria Kolesnikowa an der ukrainischen Grenze, die sich dort offenbar einer Ausweisung widersetzte, hat es nun auch die dritte der "Drei Grazien" aus dem Wahlkampfteam um Präsidentschaftskandidatin Swetlana Tichanowskaja getroffen.
"Je aktiver und sichtbarer eine Figur der Opposition ist, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass er oder sie festgenommen oder des Landes verwiesen wird", sagt der belarusische Analyst Artjom Schraibman dazu. "Das Regime versucht dadurch, die Formierung jeglicher stabiler Strukturen innerhalb des Landes zu unterbinden."
Von der Bühne gedrängt
Schon Tichanowskaja war überhaupt erst in den Wahlkampf eingetreten, weil ihr Ehemann, der Politikblogger Serhij Tichanowskij, ebenfalls in Haft sitzt. Nach ihrem offenkundigen Erfolg bei der Abstimmung wurde sie zur Ausreise nach Litauen gezwungen. Ihre Unterstützerin Veronika Zepkalo, die ebenfalls ihren Mann Valerij Zepkalo vertreten wollte, hatte sich nach Drohbotschaften samt Familie nach Russland abgesetzt. Mit Olga Kowalkowa floh am Wochenende eine weitere Mitarbeiterin Tichanowskajas - nach Polen.
Kolesnikowa hatte noch am Wochenende gegenüber der ARD betont, sie wolle auf jeden Fall im Land bleiben - gerade erst hatte sie gemeinsam mit dem inhaftierten Ex-Bankier Viktor Babariko die Gründung einer Partei bekanntgegeben. "Alle, die sich selbst in eine Führungsrolle erhoben, wurden auf die eine oder andere Weise von der Bühne gedrängt", fasst Schraibman zusammen. "Das bedeutet, dass es schwierig für sie ist, weiterhin zu wirken. Aber ich sehe keine konkreten politischen Möglichkeiten, derer sie dadurch beraubt wurden - denn die Regierung hat von Anfang an abgelehnt, mit ihnen auch nur in irgendeiner Weise in Dialog zu treten."
Der Machtapparat um Präsident Alexander Lukaschenko, der Belarus seit 26 Jahren regiert und sich auch bei der Präsidentschaftswahl Anfang August zum Wahlsieger erklärte, hält weiterhin eisern an der Kontrolle über das Land fest: Fast täglich gibt es Berichte über massenhafte Festnahmen, die nicht nur bekannte Figuren der Opposition, sondern auch Journalisten, Blogger, zuletzt auch Studierende und Gymnasiasten treffen.
Eine Demonstrantin in Minsk konfrontiert einen OMON-Sonderpolizisten mit Bildern eines Verletzten.
"Das ist schockierend für den Staat"
Aus der Sicht der Belarusen demonstriert Lukaschenko damit vor allem seine Hilflosigkeit: "In der belarusischen Geschichte gab es noch nie so etwas wie vierwöchige Proteste nach einer Wahl. Das ist schockierend für den Staat: Er versteht nicht, warum seine Repressionen nicht funktionieren", erklärt Olga Dryndova von der Forschungsstelle Osteuropa der Universität Bremen.
Dabei gibt es dafür einen klaren Grund, wie sich Dryndova und Schraibman einig sind: Die Oppositionsbewegung werde nicht von einzelnen prominenten Kräften, sondern von einer Graswurzelbewegung der Zivilgesellschaft getragen. "Die Menschen haben sich ohne diese Figuren organisiert - und das auch ganz bewusst", sagt Dryndova. Weder Tichanowskaja noch Kolesnikowa oder Zepkalo hätten je direkt zu Demonstrationen aufgerufen, sondern allenfalls streikende Betriebe besucht oder sich mit kurzen Ansprachen zu Protestgruppen hinzugestellt. Ansätze, sich zu professionalisieren - etwa die Gründung des "Koordinierungsrats" oder der Partei "Gemeinsam" - seien jeweils nur von Einzelakteuren getragen und Ausdruck ihres Willens, nichts unversucht zu lassen.
Auf ernsthafte finanzielle personelle Ressourcen oder auf den direkten Rückhalt der Demonstrierenden aber könne sich keiner dieser Versuche stützen, meint Schraibman. Die Proteste seien dezentral organisiert und vom Volk getragen, daher würde sich an der Strahlkraft einzelner Figuren durch eine Festnahme oder Ausweisung aus dem Land wenig ändern.
Der Staat "Republik Belarus" ist landläufig als Weißrussland bekannt - doch diese Übersetzung trügt. Der Name "Belarus" ist eine Referenz auf die Westliche Rus, ein Teilgebiet des mittelalterlichen slawischen Großreichs der Kiewer Rus.
Historisch überholte Bezeichnungen wie "Weißruthenien" in der Zeit des Nationalsozialismus und "Belarussische SSR" während der Sowjetunion sind für die 9,4 Millionen Einwohner des seit 1991 unabhängigen Staates schmerzhaft und erinnern sie an die leidvolle Zeit der Fremdherrschaft.
Sie bezeichnen ihr Land meist als Belarus und sich selbst als Belarusen, weil sie damit ihre Eigenständigkeit - insbesondere vom Nachbarstaat Russland - betonen. Auf diplomatischer Ebene wird der Name "Belarus" im deutschsprachigen Raum schon lange verwendet, auch das Auswärtige Amt spricht von der "Republik Belarus". Zunehmend gehen auch deutsche Nachrichtenmedien dazu über - und nennen die Einwohner konsequenterweise "Belarusen", nicht "Belarussen".
Neue, kreative Protestformen
Dryndova schätzt die Rolle prominenter Akteure da als bedeutsamer ein: "Tichanowskaja ist so etwas wie die Volkspräsidentin der Belarusen", sagt sie. "Sie glauben wirklich, dass sie gewählt wurde. Außerdem wird sie jetzt international zu Gesprächen empfangen und gehört - etwa im UN-Sicherheitsrat von EU-Abgeordneten." Dadurch habe sei sie als Symbolfigur weiterhin von Bedeutung.
Sowohl Dryndova als auch Schraibman glauben: Der Staat könne zwar wieder und wieder versuchen, bekannte Oppositionelle an den Rand zu drängen - die Proteste könne er damit aber nicht zerschlagen. "Die Menschen haben sehr schnell gelernt, sich auf unterschiedlichen Ebenen selbst zu organisieren: privat, in Telegram-Kanälen, durch Straßendemonstrationen, aber auch durch andere Zeichen der Solidarität", sagt Dryndova.
Denn auch jenseits der Streiks in Staatsbetrieben und Menschengruppen auf den Straßen bilden sich zunehmend kreative Protestformen heraus, die staatlichen Zugriff oft humorvoll und medienwirksam umgehen: Seit etwa die Verwendung der weiß-rot-weißen oppositionellen Flagge bestraft wird, hängen die Menschen etwa weiß-rot-weiße Wäschestücke zum Trocknen aus - oder Studierende erscheinen in diesen Farben gekleidet zur Vorlesung. Und um die Aufmerksamkeit von OMON-Sonderpolizisten auf den Straßen zu binden, gehen junge Frauen mit Bildern verprügelter Oppositioneller auf sie zu und fragen: "Entschuldigen Sie, ist das vielleicht Ihr Werk? Erkennen Sie es?"
Dryndova meint: "Dieses Gefühl der Zusammengehörigkeit unter den Leuten wird womöglich nicht mehr weggehen."