Flüchtlingsabkommen mit der EU Erfolgsmodell oder Desaster?
Zum Jahrestag des Flüchtlingsdeals mit der Türkei hat Brüssel den Pakt als Erfolg bezeichnet. Doch die Kritik daran flaut nicht ab. Und auch von der Türkei selbst wird das Abkommen immer wieder in Frage gestellt.
Weiter auseinanderklaffen könnten die Beurteilungen kaum: Als einen "beschämenden Fleck auf dem kollektiven Gewissen Europas" brandmarkt die Menschenrechtsorganisation Amnesty International den Flüchtlingspakt mit der Türkei. Die EU-Kommission hingegen sieht in dem Abkommen - ebenso wie die Bundesregierung - ein Erfolgsmodell.
"Wir sind ganz klar der Auffassung: Ja, es hat greifbare Ergebnisse geliefert", ließ die EU-Kommission pünktlich zum Jahrestag des Flüchtlingspakts durch ihren Sprecher, Alexander Winterstein, mitteilen. Die Zahl der Menschen, die über die türkisch-griechische Grenze in die EU kommen, sei von täglich 10.000 im Oktober 2015 auf nun lediglich rund 43 pro Tag verringert worden, rechnet man in Brüssel vor.
Flüchtlinge kommen in einem Schlauchboot aus der Türkei auf der griechischen Insel Lesbos in der Nähe der Hafenstadt Mitilini an.
Der Pakt sei Beweis dafür, dass man das Geschäftsmodell der Schlepper zerstören könne: Im Jahr vor der Türkei-Vereinbarung hätten mehr als 1100 Menschen ihr Leben in der Ägäis verloren. Seit Unterzeichnung des Pakts sei diese Zahl auf nur noch insgesamt 80 gesunken. Das sind die Zahlen, auf die es wirklich ankommt.", sagt Kommissionssprecher Winterstein. "Das sind echte Menschen, Väter, Mütter, Kinder, die gerettet werden."
Flüchtlinge leiden weiter
Während die EU-Kommission den Türkei-Deal als "Wendepunkt" in der Flüchtlingskrise preist, reißt die Kritik von Hilfsorganisationen nicht ab: Es gehe der EU nur darum, die Menschen von Europa fernzuhalten, befindet Amnesty International.
Andere Organisationen wie Human Rights Watch (HRW) verweisen auf die fast 13.000 Gestrandeten auf den griechischen Inseln, die unermessliches Leid zu ertragen hätten. "Das mag zwar keine Krise mehr für Europa darstellen", so der zuständige HRW-Direktor Philippe Dam, "aber es ist ganz sicher ein humanitäres Desaster für die Menschen, die in Folge des Deals festsitzen."
Das Abkommen sieht vor, dass grundsätzlich alle, und zwar auch jene, die dem syrischen Bürgerkrieg zu entfliehen suchen, in die Türkei zurückgeschickt werden. Auf den griechischen Inseln prüft die EU dennoch Asylanträge der Ankommenden, denn in der Türkei gefährdete Kurden können durchaus Schutzansprüche geltend machen.
Hat sich die EU Erdogan ausgeliefert?
Die Unterbringung der festsitzenden Flüchtlinge sei erbärmlich, kritisieren Beobachter. Die grüne Europa-Abgeordnete Ska Keller verlangt aber noch aus einem anderen Grund, den Türkei-Pakt aufzukündigen: Die EU habe sich damit Präsident Recep Tayyip Erdogan ausgeliefert.
"Erdogan hat den Flüchtlingspakt ausgenutzt, um die Kritik kleinzuhalten, die er von den EU-Staaten für all die Menschenrechtsverletzungen, die in den letzten Monaten und Jahren passiert sind, hätte ernten müssen", kritisiert sie.
Immer wieder Drohungen aus der Türkei
Eine offizielle Strichliste darüber, wie oft die türkische Seite und auch Präsident Erdogan selbst der EU schon gedroht haben, den Deal platzen zu lassen, existiert nicht. Doch diese Liste wäre lang. Noch gibt es keine Anzeichen dafür, dass Ankara das Abkommen wirklich aufkündigen wird. Ein stetiges Diskussionsthema wird der Deal aber bleiben - sowohl in der Türkei als auch in der EU.