Aserbaidschan Großangriff auf Armenier in Bergkarabach
Aserbaidschanische Streitkräfte greifen den von Armeniern bewohnten Teil von Bergkarabach an. Ziel sei die "Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung". Videos zeigen Artillerieangriffe.
Aserbaidschan hat einen neuen Militäreinsatz zur Eroberung der Konfliktregion Bergkarabach gestartet. Es habe "lokale Anti-Terror-Maßnahmen eingeleitet, um die verfassungsmäßige Ordnung wiederherzustellen" - so lautet die Mitteilung des aserbaidschanischen Verteidigungsministeriums in Baku.
Der Militäreinsatz solle den nach dem Bergkarabach-Krieg 2020 im Waffenstillstand festgeschriebenen Rückzug armenischer Truppen aus dem Gebiet durchsetzen. Es werde nur auf militärische Ziele geschossen. Zuvor seien eigene Stellungen von armenischer Artillerie angegriffen und mehrere Soldaten verletzt worden.
Bergkarabach weist Vorwürfe zurück
Die Führung der Konfliktregion um die Hauptstadt Stepanakert wies die Anschuldigungen zurück. Deren Verteidigungskräfte hielten sich an den Waffenstillstand, teilte das Verteidigungsministerium der international nicht anerkannten Republik Arzach in Bergkarabach mit. Der Vorwurf, die Feuerpause gebrochen und zwei aserbaidschanische Soldaten verletzt zu haben, sei "erlogen und entspricht nicht den Tatsachen", heißt es in einer Mitteilung.
Armeniens Verteidigungsministerium erklärte, das Land sei weder mit militärischem Personal noch Gerät in Bergkarabach vertreten.
Bewohner von Stepanakert posteten Videos, auf denen Sirenen und Artilleriegeräusche aus den Bergen vor der Stadt zu hören waren. Auf einem von aserbaidschanischer Seite geposteten Video war zu sehen, wie ein Flugabwehrsystem vor Stepanakert zerstört wurde.
Bergkarabach isoliert
In den vergangenen Wochen war ein massiver Truppenaufmarsch aserbaidschanischer Streitkräfte um Bergkarabach und an der Grenze zu Armenien zu beobachten, außerdem Transportflüge von Militärflughäfen in den verbündeten Staaten Israel und Türkei nach Aserbaidschan.
Die Entwicklung war vergleichbar mit der Lage vor dem zweiten Krieg um das Konfliktgebiet Bergkarabach vor drei Jahren. Damals eroberte Aserbaidschan Gebiete zurück, die die Armenier seit einem ersten Krieg in den 1990er-Jahren kontrolliert hatten.
Seit Dezember 2022 schränkte Aserbaidschan den Verkehr durch den Latschin-Korridor, der einzigen Landverbindung zwischen dem armenisch bewohnten Teil Bergkarabachs und Armenien, zunehmend ein, sodass zuletzt auch keine Hilfsgüter mehr in das Gebiet gelangten. Gestern waren nach langen Verhandlungen zwei Lkw des Internationalen Roten Kreuzes durch den Latschin-Korridor und zwei Lkw von aserbaidschanischer Seite aus nach Bergkarabach gelangt.
Russische Friedenstruppen mit einer offiziellen Stärke von 2.000 Mann sollten gemäß einer Friedensvereinbarung von 2020 die Armenier in Bergkarabach schützen, sie ließen die aserbaidschanischen Truppen seither aber weitgehend gewähren. Das russische Außenministerium teilte mit, man stelle Kontakt zwischen den Konfliktparteien her.
Internationale Vermittlungen der EU, der USA und Russlands sollten zu einem Friedensabkommen bis Ende des Jahres führen. Zusätzlich hatte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan am Wochenende ein Vermittlungstreffen vorgeschlagen. Gespräche sollte es während der gerade stattfindenden UN-Generalversammlung in New York geben.
Zwar zeichneten sich in den vergangenen Wochen Kompromisse zwischen Armenien und Aserbaidschan ab, der Konflikt um Bergkarabach blieb aber verhärtet. Aserbaidschan fordert praktisch die Assimilation der Armenier in Bergkarabach in den aserbaidschanischen Staat. Armenien fordert zumindest Rechte und Sicherheiten für die Menschen dort, wenn es schon die territoriale Integrität Aserbaidschans inklusive Bergkarabachs anerkennt.
Guerillakrieg droht
Die Armenier in Bergkarabach verfügen über "Selbstverteidigungstruppen" mit mehreren Tausend Soldaten und einer begrenzten Zahl an Militärgerät und Munition. Alle Männer in Bergkarabach durchlaufen mit 18 Jahren eine Militärausbildung, in vielen Haushalten befinden sich Waffen. So kann es den aserbaidschanischen Streitkräften zwar gelingen, die Militärstellungen der Armenier zu zerstören. Aber die Kämpfer könnten sich in die Wälder zurückziehen und von dort aus Angriffe auf die aserbaidschanischen Kräfte führen, warnen Experten wie Richard Giragosian und Tom de Waal.
Von den 120.000 Einwohnern Bergkarabachs befanden sich Schätzungen zufolge 60.000 bis 70.000 vor Ort. Sollten die aserbaidschanischen Angriffe andauern, droht eine massive Flüchtlingswelle wie im Jahr 2020, wenn nicht gar die weitgehende Vertreibung der armenischen Bevölkerung aus Bergkarabach. Dies könnte in Armenien zu innenpolitischen Unruhen führen.
Das aserbaidschanische Verteidigungsministerium schrieb in einer Pressemeldung: "Auf der Straße nach Latschin und in anderen Richtungen wurden humanitäre Korridore und Auffangstationen eingerichtet, um die Evakuierung der Bevölkerung aus der Gefahrenzone zu gewährleisten."