Zwei Polizisten und ein Soldat auf der Straße zum Latschin-Korridor vor den Bergen von Bergkarabach

Einigung über Hilfstransporte Endet die Blockade Bergkarabachs?

Stand: 09.09.2023 21:58 Uhr

Seit fast neun Monaten blockiert Aserbaidschan den Zugang zu Bergkarabach. Den Armeniern dort fehlt es inzwischen an fast allem. Nun gibt es offenbar eine Einigung über die Wiederaufnahme von Hilfslieferungen.

Am Sonntag könnten erste Hilfsgüter in Bergkarabach eintreffen. Seit fast neun Monaten blockiert Aserbaidschan die auf seinem Territorium befindliche Region, das von Armeniern bewohnt wird. In den vergangenen Wochen ließ die aserbaidschanische Führung immer weniger Transporte zu, sodass in den vergangenen Tagen sogar das Brot rationiert werden musste.

Nun sei es unter maßgeblicher Vermittlung des Internationalen Roten Kreuzes zu einer Einigung gekommen, teilte der armenische Sicherheitsexperte Richard Giragosian tagesschau.de mit. Er bestätigte armenische und aserbaidschanische Medienberichte, wonach Hilfsgüter von zwei Seiten in die Region gelangen sollen. Das russische Rote Kreuz wird demnach von der aserbaidschanischen Seite aus Hilfslieferungen nach Bergkarabach bringen. In sozialen Medien waren bereits Aufnahmen eines Konvois in der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku zu sehen.

Im Gegenzug soll der Latschin-Korridor - die einzige Straßenverbindung zwischen Bergkarabach und Armenien - wieder geöffnet werden. Das Internationale Rote Kreuz und die dort stationierten Truppen sollen ihre Transporte wieder aufnehmen dürfen.

Aserbaidschan hatte darauf bestanden, die Armenier in Bergkarabach von seiner Seite aus zu beliefern. Die Armenier befürchteten jedoch, sie könnten ihre Eigenständigkeit verlieren und allein auf Aserbaidschan angewiesen sein. Einen Hilfstransport des aserbaidschanischen Roten Halbmondes mit 40 Tonnen dringend benötigtem Mehl blockierten sie auch deshalb, weil sie befürchteten, dass dies einen Einmarsch aserbaidschanischer Truppen nach sich ziehen könnte.

Karte: Aserbaidschan, Bergkarabach, Armenien

Neue Führung in Bergkarabach

Die Lage in der Konfliktregion hatte sich in den vergangenen Tagen erheblich zugespitzt. Aufnahmen aus Bergkarabach zeigten Schlangen vor Bäckereien und leere Straßen. Aus Mangel an Benzin fahren kaum noch Autos. Auch die Strom- und Gasversorgung fällt immer wieder aus. Angesichts der ausweglosen Lage trat der bisherige Präsident Araik Harutjunjan in den vergangenen Tagen zurück. Am Samstag stimmten vier von fünf Parteien im Parlament für den Übergangspräsidenten Samwel Sharamanjan. Auch wenn die aserbaidschanische Regierung die Wahl nicht anerkennt, kam es gleich nach dem Führungswechsel zu dieser Einigung.

Die Führung in Baku geriet zudem in den vergangenen Tagen massiv unter Druck. Nachdem die EU-Mission vor Ort und Armeniens Premier Nikol Paschinjan auf einen massiven aserbaidschanischen Truppenaufmarsch um Bergkarabach und im Grenzgebiet beider Staaten aufmerksam gemacht hatten, verstärkten mehrere Staaten ihre diplomatischen Anstrengungen. Bundeskanzler Olaf Scholz, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Vertreter weiterer Regierungen telefonierten mit Paschinjan. US-Außenminister Antony Blinken und andere sprachen mit Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew.

Der südliche Nachbar Iran erneuerte zudem seine Drohungen, dass man nicht tatenlos zusehen werde, wenn Aserbaidschan Grenzen verschiebe und die Verbindung zwischen dem Iran und Armenien blockieren sollte.

Abkehr von Russland

Iran und auch Indien sind Verbündete Armeniens. In den vergangenen Monaten gab es mehrfach Berichte, wonach Indien Waffen an Armenien liefere. Bislang war Russland wichtigster Waffenlieferant und Schutzmacht Armeniens. Doch schon im Krieg im Jahr 2020 ließ die russische Führung Aserbaidschan lange ohne militärisches Eingreifen gewähren. Erst als im November 2020 eine Vertreibung aller Armenier aus Bergkarabach drohte, setzte Russland einen Waffenstillstand durch und stationierte Friedenstruppen in Bergkarabach.

Zur massiven Enttäuschung der Armenier verweigerten Russland und das von ihm angeführte Militärbündnis OVKS danach immer wieder Unterstützung, auch als Aserbaidschan im Frühjahr 2021 begann, Armenien selbst anzugreifen.

In den vergangenen Tagen entschied sich die armenische Regierung dann zu einer Reihe außenpolitischer Zeichen gegen Russland: Es entsandte keine Vertreter zu einer Militärübung des OVKS. Stattdessen halten die armenischen Streitkräfte ein Training für den Einsatz in Friedenstruppen mit der US-Armee ab. Außerdem schickte Armenien erstmals seit der russischen Invasion am 24. Februar 2022 humanitäre Hilfe in die Ukraine. Und es wird erwartet, dass das armenische Parlament in Kürze ein Dokument zur Anerkennung des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag ratifiziert. Armenien wäre dann verpflichtet, den internationalen Haftbefehl gegen Russlands Präsident Wladimir Putin zu vollstrecken, sollte er nach Armenien reisen.

Begleitet wurde all dies mit harscher Kritik aus Jerewan an Russlands Nichtstun. Die Regierung in Moskau reagierte mit Vorwürfen gegen Armenien, aber auch mit der Aussage von Putins Sprecher Dmitri Peskow, dass Russland weiterhin im Südkaukasus präsent bleibe und für Stabilität sorgen werde. Dass nun die russische Unterorganisation des Roten Kreuzes in die Einigung involviert ist, könnte für Bemühungen in Moskau sprechen, neben den USA und der EU wieder stärker im Südkaukasus aktiv zu werden.

Sollte die Vereinbarung zur Öffnung der Straßen nach Bergkarabach von beiden Seiten eingehalten werden, könnte dies einen neuen Impuls für die auf mehreren Ebenen laufenden Friedensverhandlungen geben, gelingt dies nicht, droht weiter eine militärische Eskalation und eine Vertreibung der Armenier aus Bergkarabach.