Manfred Weber spricht im EU-Parlament in Straßburg (Frankreich).
analyse

EU-Kommission und EU-Parlament Das Jahr, als die EU nach rechts rückte

Stand: 30.12.2024 09:17 Uhr

Im EU-Parlament sind neue Zeiten angebrochen. Seit der EU-Wahl schauen die Christdemokraten bei der Suche nach Mehrheiten verstärkt nach rechts. EVP-Chef Weber hat an diesem Wandel lange gearbeitet. Wird das 2025 prägen?

Eigentlich ist es reine Routine: Alle fünf Jahre wählt das Europaparlament eine neue EU-Kommission, Überraschungen kommen so gut wie nicht vor, die Mehrheit steht vorher fest. Auch dieses Mal hatte niemand ernsthafte Zweifel, dass die Ja-Stimmen ausreichen würden.

Trotzdem gab es am 27. November mittags eine Schrecksekunde, als nach der Auszählung an der großen schwarzen Anzeigetafel im Straßburger Plenum das Ergebnis aufleuchtete, der Applaus setzte nur langsam ein. Der Grund: Nie zuvor in dreißig Jahren Parlamentsgeschichte war eine EU-Kommission mit einer so mageren Mehrheit ins Amt gewählt worden.

Erfahrenen Europaabgeordneten war sofort klar: Das Fundament ist brüchig, auf dem Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen jetzt fünf Jahre lang ihre Politik aufbauen muss.

Eine Ernennung, die auf Widerstand trifft

Was war geschehen? Viele Mitte-Links-Abgeordnete hatten der Kommission ihre Stimme verweigert, weil zum ersten Mal ein Rechtsaußenpolitiker in ein herausragendes Amt der Kommission gehievt wurde. Raffaele Fitto von den Fratelli d’Italia - eine Partei, die von Politikwissenschaftlern als postfaschistisch eingestuft wird.

Dass Italien als großes EU-Land Anspruch auf ein wichtiges Ressort hat - Fitto ist zuständig für die milliardenschweren Regionalfonds -, fanden viele noch nachvollziehbar. Aber dass er zusätzlich zum geschäftsführenden Vizepräsidenten von der Leyens ernannt wurde, das war inakzeptabel selbst für Fraktionsgruppen, auf die die Kommissionspräsidentin sich fünf Jahre hat verlassen können.

Zum Beispiel die deutschen Sozialdemokraten. Fitto war für sie nur der letzte Aufreger in einer langen Kette von Provokationen durch die Mehrheitsfraktion der Christdemokraten, die Europäische Volkspartei (EVP). "Sie stimmen im Parlament immer öfter gemeinsam mit rechten und rechtspopulistischen Parteien", sagt René Repasi, Chef der Europa-SPD im Parlament. "Manfred Weber und die EVP suchen schon zwanghaft nach alternativen Mehrheiten zur pro-europäischen Mehrheit."

Tatsächlich fand 2024 ein Richtungswechsel statt. Es gab bei Abstimmungen öfter als je zuvor Mehrheiten mit Rechtsaußen-Parteien, etwa bei Entscheidungen zur Umweltpolitik und zur Migrationspolitik.

Wandel mit Vorarbeit

Der CSU-Politiker Manfred Weber, mächtiger Chef von Europas Christdemokraten, ist der Architekt der neuen Mehrheit. Der Bayer hat lange daran gearbeitet. Schon vor knapp zwei Jahren, am Vorabend der Beerdigung von Papst Benedikt, besuchte er in Rom die gerade frisch gewählte Ministerpräsidentin und Vorsitzende der postfaschistischen Fratelli d’Italia, Georgia Meloni, in ihrem Amtssitz, Palazzo Chigi.

Das Treffen wurde in Deutschland zuerst gar nicht öffentlich, löste aber einen Eklat aus, als Fotos bekannt wurden. "Fällt die Brandmauer der Union gegen Rechtsaußen?", titelte der Spiegel. Selbst in Unions-Reihen wurden Webers Annäherungsversuche an die Postfaschisten von einigen als unangemessen empfunden. Ein Wahlvideo Webers für Silvio Berlusconi, dessen Forza Italia zur Parteienfamilie der EVP gehört und die schon 2022 in Rom ein Bündnis mit Meloni anstrebte, sorgte in jenem Jahr für Unmut, auch in der Spitze der CSU.

Inzwischen müssen auch die parteiinternen Kritiker von Weber zugestehen, dass seine Strategie aufgegangen ist. Bei Abstimmungen ist man weniger auf Zugeständnisse an die Grünen oder Sozialdemokraten angewiesen, wenn man Partner weiter rechts hat.

Änderungsanträge am Gesetz zum Schutz der Wälder beispielsweise konnten die Christdemokraten mit den Stimmen der AfD und anderer rechtsextremer Partner durchs Parlament bringen. Die Verwässerung des Umweltschutzes scheiterte dann nur am Widerstand der großen der Mitgliedsländer. Einmal wählten die Christdemokraten sogar offen für einen Antrag der AfD, es ging um Maßnahmen zur Verschärfung der Flüchtlingspolitik. Der AfD-Abgeordnete Alexander Jungbluth sprach von einem "historischen Tag im Europäischen Parlament".

Muster für Berlin?

Aus Sicht der Politikwissenschaft wird im Europaparlament gerade etwas erprobt, was im Bundestag nicht vorstellbar wäre: die Zusammenarbeit von CDU/CSU mit Rechtsaußen. Nicolai von Ondarza von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) sieht darin die Gefahr, dass Rechtsaußenparteien durch die wiederholte Zusammenarbeit legitimiert und normalisiert werden.

"So spielen Manfred Weber und die ganze EVP mit dem Feuer im Europaparlament", sagt er. Die EVP arbeite in der Migrationspolitik und auch in Teilen der Wirtschaftspolitik eben lieber mit den Rechtsaußenparteien zusammen, als "unliebsame Kompromisse mit den Sozialdemokraten, Liberalen oder Grünen zu treffen".

Heißt: Mehrheiten rechts von der Mitte sind auch nach der Europawahl nicht zwangsläufig, sie werden geschmiedet. Nach dem Jahreswechsel wird sich 2025 zeigen, mit welchen Mehrheiten Kommissionspräsidentin von der Leyen ihre Gesetze und Verordnungen durchbringt. Und wie weit sie bereit ist, nach rechtsaußen zu greifen. Oder ob sie zusammen mit ihrer christdemokratischen Parteienfamilie, der EVP, Mehrheiten auf der anderen Seite des Parlaments sucht - mit Sozialdemokraten, Liberalen und Grünen.

Helga Schmidt, ARD Brüssel, tagesschau, 26.12.2024 14:02 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete MDR aktuell am 30. Dezember 2024 um 09:34 Uhr.