Ein Jahr nach "Katargate" Ein Fall, der immer komplizierter wird
Korruption im Europaparlament: Als vor einem Jahr die damalige Vizepräsidentin Kaili festgenommen wurde, war der Schock nicht nur unter Abgeordneten groß. Ein Jahr danach sind immer noch viele Fragen ungeklärt.
Es geht um viel Bargeld und um Länder, die Einfluss auf die EU-Politik nehmen wollten: Marokko und Katar. Vor allem das reiche Katar soll Europaabgeordnete bezahlt haben, um in der EU ein besseres Image zu bekommen
Das Ziel: Katar wollte sich als humanes Land präsentieren, als Ende 2022 die Fußball-WM anstand. Dann aber platzte im Dezember vergangenen Jahres mitten ins Turnier die Nachricht von Razzien und Verhaftungen in Belgien und Italien.
Es gehe "um umfangreiche Ermittlungen", so der Sprecher der belgischen Staatsanwaltschaft vor einem Jahr. "Es gibt Fakten wie Korruption, Geldwäsche, kriminelle Organisationen auf europäischer Ebene."
Aus dem Parlament in die Haftanstalt
Der Schock im politischen Brüssel, aber auch in den EU-Mitgliedstaaten saß tief. Wie weit würde der Fall gehen? Manche fürchteten, es hätten noch viel mehr Länder versucht, mit viel Geld die europäische Politik zu beeinflussen. Heute, ein Jahr nach Beginn der Ermittlungen, stellt sich der Fall immer komplizierter dar.
Monatelang saßen mehrere aktuelle und ehemalige Europaparlamentarier im Gefängnis des Brüsseler Stadtteils St. Gilles, darunter Eva Kaili. Die ehemalige Vizepräsidentin des Europaparlaments hatte mehrfach Katar besucht - auch auf Kosten des Gastgebers.
Und sie äußerte sich im Europaparlament freundlich über das Land: Katar sei Vorreiter bei den Arbeitsrechten und habe sogar einen Mindestlohn eingeführt. Sie nahm auch an einer Abstimmung in einem Ausschuss über Visaerleichterungen teil, obwohl sie gar nicht Mitglied des Ausschusses war.
Viele Verdächtige
Kaili galt als Teil eines Netzwerkes, das von dem Verein "Kampf gegen die Straflosigkeit" geknüpft worden sein soll.
Dessen Chef war der frühere Europaabgeordnete Antonio Panzeri. Sein Mitarbeiter Francesco Georgi war wiederum Partner von Kaili. Weitere Verdächtige sind die Abgeordneten Marc Tarabella, Antonio Cozzolino und Maria Arena, die Panzeri nahe stehen soll.
Untersuchungsrichter in diesem Fall war Michel Claise, in Belgien als harter Ermittler bekannt. Korruption müsse konsequent bekämpft werden, sagt er dem ARD-Europamagazin im März. Vier Monate saß Kaili im Gefängnis, getrennt von ihrer zweijährigen Tochter.
Schwere Vorwürfe der Ermittler
Kailis Anwalt sprach von Folter: Tagelang sei sie ohne frische Wäsche, ohne entsprechende Kleidung in einer kalten Zelle gewesen. Auch die anderen Verdächtigen seien massiv unter Druck gesetzt worden.
Die Vorwürfe gegen sie waren massiv: Kailis Vater sei mit hunderttausenden Euro in einem Hotel erwischt worden, so die Staatsanwaltschaft. Weitere 150.000 Euro und Geschenke hätten sich in ihrer Wohnung befunden.
Es sei Geld von ihrem Mann, zurückgezahlte Schulden, sagt Kaili der ARD - sie habe damit nichts zu tun. Ihr Mann hat bereits ein Geständnis abgelegt. Kaili beteuert ihre Unschuld. Aber manche Vorgänge im Fall werden immer zweifelhafter.
Die Argumente der Verteidiger
Aus Unterlagen der Ermittler ist jedenfalls schwer nachzuvollziehen, gegen wen welche Beweise wirklich vorliegen. Für Christophe Merchand, einen der Anwälte von Kaili, ist die Sache klar: "Die Schlussfolgerung ist, dass der Vorwurf der Korruption gegen Eva Kaili unbegründet ist. Es gibt nichts, das belegen würde, dass sie korrupt ist oder war. Es war ein Vorgang, der durchgeführt wurde, um es zu einem großen Skandal, zu einem spektakulären Prozess zu machen."
"Mich amüsiert der Fall, er ist besser als jede Netflix-Serie", sagte Claise dem ARD-Studio Brüssel im Februar. Allerdings trug er dazu in gewisser Weise selbst bei: Sein Sohn machte nämlich Geschäfte mit dem Sohn einer der Verdächtigen, Maria Arena. Auch in deren Umfeld wurde Geld gefunden, sie hatte sogar den Arbeitsminister Katars ins Parlament eingeladen.
Anders als Kaili, ließ Claise Arena nicht verhaften. Der Untersuchungsrichter musste inzwischen zurücktreten. Sven Mary, der zweite Anwalt von Kaili, glaubt, man habe ihre Mandantin absichtlich so in den Mittelpunkt gestellt: "Eva Kaili wurde zum Symbol. Sie hatte alles, um die Hauptrolle zu spielen. Eine Frau mit Macht, eine junge Frau, eine Frau mit der perfekten Familie, eine schöne Frau und intellektuell außergewöhnlich. Und in diesem Moment wurde sie zu einer Trophäe."
Anrüchiges Lob?
Aber was ist mit Kailis Lob für Katar? Als Vizepräsidentin war sie Teil offizieller EU-Delegationen. Und es ist offizielle Position der EU, die Beziehungen zu Katar bei Handel, Energie und vielen anderen Ebenen zu verbessern. Zudem reiste sie auch im Auftrag der Parlamentspräsidentin Roberta Metsola und war für die Region zuständig.
Kailis Anwälte kritisieren zudem das Vorgehen der belgischen Behörden. Denn als Europaabgeordnete genießt Kaili eigentlich Immunität. "Parlamentarier in allen Demokratien der Welt sind geschützt", meint Anwalt Marchand. "Sie können nicht befragt oder durchsucht werden, es sei denn die Immunität seitens des Parlaments wird aufgehoben. Hier hat diese Aufhebung der Immunität nicht stattgefunden. Es ist ein offensichtlicher Verstoß gegen die Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Parlamentariern."
Platzt das Verfahren?
Nun hat Kaili Beschwerde eingelegt - und manche glauben, sie könnte Recht bekommen, das Verfahren gegen sie deswegen platzen. Und damit auch die gegen die anderen verdächtigen Abgeordneten.
Dann würde der vermeintlich größte Korruptionskandal in der Geschichte des Parlaments wegen eines Verfahrensfehlers womöglich in sich zusammenfallen. Seit September ist Kaili wieder als Abgeordnete im Europaparlament tätig.
Viele ihrer Kollegen wollen sich lieber nicht äußern. Der FDP-Abgeordnete Moritz Körner ist einer der wenigen, die den Fall kommentieren. "Jetzt muss klar werden, wer welche Rolle gespielt hat in dem Skandal", sagt er. "Dass wir ein Jahr später noch immer keine konkrete Anklage haben, ist tatsächlich ein Riesenskandal und ein Versagen der belgischen Justizbehörden, die hier ermittelt haben."
Schärfere Regeln
Das Parlament selbst hat inzwischen neue, härtere Transparenzregeln eingeführt. Lobbykontakte müssen nun detailliert aufgelistet werden. Auch die Einkünfte der Abgeordneten müssen deutlicher offengelegt werden. Der Umgang mit "Katargate" ist sieben Monate vor der Europawahl auch ein Kampf um Glaubwürdigkeit.
Um ihre Glaubwürdigkeit kämpft auch Kaili: Das viele Geld in ihrer Wohnung, dass sie von den Aktivitäten ihres Partners nichts gewusst haben will - all das wird schwierig zu erklären, wenn es doch noch zum Prozess kommen sollte.
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