Proteste in Frankreich Wenn die Gewalt eskaliert
Bei den Protesten gegen die französische Rentenreform spitzt sich die Lage zu. Gegen die Polizei gibt es heftige Vorwürfe - diese wiederum beklagt brutale Angriffe. Heute ist der zehnte Protesttag.
Auch heute, am zehnten Protest- und Streiktag gegen die Rentenreform, könnte es zu gewaltsamen Ausschreitungen kommen, fürchtet das französische Innenministerium. Seit die Regierung die Reform unter Anwendung des Artikels 49.3 ohne Abstimmung in der Nationalversammlung verabschiedete, haben sich die Proteste radikalisiert.
Dabei gerät auch immer wieder die französische Polizei in die Kritik. Die Menschenrechtskommissarin des Europarates, Dunja Mijatović, mahnte in einer Stellungnahme am vergangenen Freitag, dass "sporadische Gewaltakte" einiger Demonstrierender nicht die "übermäßige Anwendung von Gewalt durch Beamte" rechtfertige. Die Sorge wächst, dass es heute wieder knallt.
Gewaltbereite Polizisten
Seit vergangenem Donnerstag kursieren im Netz Dutzende Videos und Tonaufnahmen von Zusammenstößen zwischen Polizei und Demonstrierenden. Ein Polizist schlägt einen Randalierer k. o., bewaffnete Beamte drängen Journalisten ab, beleidigen einen schwarzen jungen Mann rassistisch. 17 Verfahren wurden mittlerweile bei der Aufsichtsbehörde der Polizei IGPN eröffnet. Besonders in der Kritik stehen die Mitglieder der Motorradbrigade BRAV-M.
"Da tauchten bestimmt 20 Motorräder auf", erzählt Salomé Rio, Studentin der Sozialwissenschaften in Paris, dem öffentlich-rechtlichen Sender France3. "Sie haben mich zu Boden geschmissen, mir gedroht: Mein Leben, sagten sie, hänge am seidenen Faden. Sie drohten: 'Diesmal hast du Glück, aber das nächste Mal werden wir dir die Knie brechen.'"
Der Chef der Pariser Polizeipräfektur, Laurent Nunez, versuchte, zu beschwichtigen: "Diese Aussagen der Polizisten sind natürlich absolut inakzeptabel. Ich bin schockiert", sagte er.
Man unterstütze aber die Beamten. Das, was sie gerade leisten, sei absolut bemerkenswert. Sie seien sehr mutig, denn sie gerieten in äußerst schwierige Situationen: "Aber wir erwarten im Umkehrschluss, dass die berufsethischen Richtlinien eingehalten werden."
Attacken gegen Beamte
Das ist oft nicht der Fall, finden Demonstrierende, Mitglieder des Linksbündnisses NUPES oder Amnesty International. Bei einer Pressekonferenz gestern Abend verteidigte Innenminister Darmanin seine Sicherheitskräfte vehement. Die Angriffe auf die Beamten hätten ein unerträgliches Ausmaß angenommen - und zwar, seitdem die Regierung am 16. März den Sonderartikel 49.3 angewandt und damit die Rentenreform ohne Abstimmung in der Nationalversammlung durchgesetzt habe.
Seitdem seien die Beamtinnen und Beamten extrem gewaltsamen Akten ausgesetzt. 891 Polizisten und Gendarme seien in klar gegen sie gerichteten Attacken verletzt worden. Außerdem verzeichne man 2179 Fälle von Brandstiftung, erklärte Darmanin.
"Sie kommen, um Polizisten zu töten"
Besonders heftige Zusammenstöße gab es am vergangenen Wochenende bei einer Demo, die mit den Rentenprotesten gar nichts zu tun hatte. Klimaaktivisten versammelten sich im westfranzösischen Sainte-Soline bei einer nicht genehmigten Kundgebung gegen den Bau gigantischer Wasserreservoirs. Unter ihnen waren nach Polizeiangaben 200 Gewaltbereite. Die Polizei fand Äxte, eiserne Boulekugeln und andere Waffen.
Binnen kürzester Zeit eskalierte die Gewalt. Die Gendarmerie National feuerte 4000 Tränengasgranaten ab. Es gab Dutzende zum Teil schwer Verletzte auf beiden Seiten. Zwei Demonstranten schweben in Lebensgefahr.
Innenminister Darmanin warnte angesichts dieser Gewalt am Wochenende: Beim heutigen Protesttag gegen die Rentenreform könnten sich rund eintausend Radikale, zum Teil aus dem Ausland, unter die Demonstrierenden in Paris, Rennes, Lyon, Nantes, Bordeaux und Dijon mischen. "Sie kommen, um zu zerstören, zu verletzten und um Polizisten zu töten", beschwor Darmanin.
Demonstranten der Umweltbewegung "Les Soulevements de la Terre" stoßen während einer Demonstration gegen den Bau von Wasserspeichern mit der Polizei zusammen.
Gegen die Gewaltspirale
Patrick Baudouin, Präsident der Menschenrechtsliga, verurteilte zwar die Zerstörung, die die Randalierer, die sogenannten Casseurs, anrichteten. Er sieht die Verantwortung für die Gewaltspirale aber auch bei der Polizei: "Wenn die Polizei unverhältnismäßig viel Gewalt anwendet, schürt sie doch auf der anderen Seite die Gewalt. Diese Eskalation beider Seiten muss aufhören. Sonst fahren wir gegen die Wand."
Für heute hat Innenminister Darmanin die Zahl der Sicherheitskräfte noch einmal aufgestockt. Landesweit werden 13.000 Männer und Frauen für die Polizei und die Gendarmerie im Einsatz sein. Allein in Paris sind es 5500. Mit diesem nie dagewesenen Aufgebot hofft der Innenminister die Lage in den Griff zu kriegen.