Ilja Jaschin

Nach Gefangenenaustausch mit Russland Frei - aber innerlich zerrissen

Stand: 15.08.2024 10:40 Uhr

Die beiden Russen waren Teil des größten Gefangenenaustauschs seit dem Kalten Krieg: Der Menschenrechtsaktivist Orlow und der Oppositionelle Jaschin. In Deutschland hadern sie noch mit ihrer neuen Rolle und der Freiheit.

Von Mareike Aden, NDR

Die Turnschuhe, die Ilja Jaschin trägt, als er bei Sonnenschein durch einen Park im Osten Berlins läuft, sind makellos weiß. Kein Wunder, denn sind sie noch keine zwei Wochen alt. Gekauft hat der 41-jährige Moskauer sie in Deutschland - einen Tag, nachdem er Teil des historischen Gefangenenaustausches mit Russland war. Bei seiner Ankunft trug er noch die schwarzen schweren Lederstiefel aus dem russischen Straflager und die dunkelgraue Häftlingsuniform.

"Wieder spazieren gehen zu können, essen und schlafen zu können, wann ich will und meine Liebsten zu sprechen und zu umarmen - das ist natürlich schön", sagt Jaschin. Aber in regelmäßigen Abständen treffe es ihn wie ein Schlag. "Der Gedanke daran, dass meine Mitstreiter, die an Bord dieses Flugzeuges hätten sein sollen, weiter im Gefängnis sind - manche unter Bedingungen, die wie Folter sind - ist manchmal unerträglich", sagt Jaschin. Innerlich sei er zerrissen.

Nach dem Gefangenenaustausch: Russische Oppositionelle in Deutschland

M. Aden/A. Davydova, NDR, tagesthemen, 14.08.2024 22:15 Uhr

Öffentliche Kritik an Putin und dem Ukraine-Krieg

Jaschin ist eines der bekanntesten Gesichter der russischen Opposition. Seit etwa 20 Jahren kritisiert er den russischen Präsidenten Wladimir Putin und sein System. Er organisierte Massenproteste, trat bei Wahlen an, war oft an der Seite seines engen Freundes Alexej Nawalny, der Anfang des Jahres in einem russischen Gefängnis starb.

In Russland zu bleiben und für seine Überzeugung notfalls für Jahre ins Gefängnis zu gehen, war für Jaschin trotz aller Gefahren eine bewusste Entscheidung. Er hielt auch an ihr fest, als Russlands Krieg gegen die Ukraine begann und mit ihm die Repressalien im Land noch einmal zunahmen. Ende 2022 wurde Jaschin zu achteinhalb Jahren verurteilt, weil er auf Youtube über die Gräueltaten der russischen Armee an ukrainischen Zivilisten in Butscha gesprochen hatte.

Jaschin wehrte sich gegen Austausch

"Ich habe immer deutlich gemacht, dass ich nicht ausgetauscht werden wollte", sagt er jetzt und klingt trotzig: "Andere, um deren Gesundheit es schlecht steht, die hätten rausgeholt werden müssen." Als er zu ahnen begann, dass ein Austausch unmittelbar bevorstehen könnte, schrieb er sogar an den Gefängnisdirektor, dass es verboten sei, Bürger Russlands gegen ihren Willen aus dem Land zu entfernen.

"Das war eine Verbannung", sagt Jaschin jetzt und am liebsten würde er nach Russland zurückgehen. Doch beide Seiten, die deutsche und die russische, haben ihm zu verstehen gegeben: Das wäre das Ende weiterer Gefangenenaustausche. "Ich war ein Oppositionspolitiker in Russland, ich war ein Oppositionspolitiker im Gefängnis, nun bin ich ein Oppositionspolitiker, der vorübergehend im Ausland leben muss." Aber, schiebt er hinterher, noch wisse er nicht genau, wie das aussehen solle. 

 

"Andere hätten es mehr verdient"

Ein paar Kilometer weiter sitzt der 71 Jahre alte Oleg Orlow, einer der bekanntesten Menschenrechtsaktivisten Russlands, in einem Berliner Büroraum und hadert ebenfalls damit, dass ausgerechnet er ausgetauscht wurde. "Andere politische Gefangenen hätten es dringender benötigt. Sie saßen länger in Haft, ihre Strafen sind höher und ihnen geht es viel schlechter."

Orlow, der die in Russland inzwischen verbotene Menschenrechtsorganisation Memorial mitgegründet hat, wurde im Februar zu zweieinhalb Jahren Haft wegen angeblicher Diskreditierung der russischen Armee in einem Zeitungsartikel verurteilt. Wie er auf die Liste zum Austausch gekommen ist, weiß er nicht. Auch er tut sich schwer mit der neuen Rolle, fragt sich, welchen Unterschied er noch machen kann. "Ich bin immer bewusst in Russland geblieben", sagt Orlow:

Meine Stimme war hörbarer, als ich dort war. Eine Stimme gegen den Krieg gegen die Ukraine, von jemandem der sich in Russland befindet. Das war ein wichtiges Symbol.

 

"Ein Krieg von Putins Söldnern"

Sich für ein Ende des russischen Krieges gegen die Ukraine stark zu machen, ist auch für Jaschin eines der wichtigsten Anliegen. Im Gefängnis habe er Häftlinge getroffen, die einen Vertrag mit der russischen Armee unterschreiben wollten. "Immer habe ich versucht, sie zu überreden es nicht zu tun. In drei Fällen ist es mir gelungen. Das ist besser als nichts", sagt er. In diesen Gesprächen habe er viel über die Gründe erfahren. "Keiner wollte für den russischen Imperialismus kämpfen oder die Sowjetunion wiederbeleben", so Jaschin.

Was Putin von sich gibt, darauf haben alle gespuckt, es ging ihnen nur ums Geld. Deshalb ist das für mich kein Krieg des russischen Volkes. Es ist ein Krieg von Putins Söldnern. Auch wenn es eine Tragödie ist, dass so viele meiner Landsleute dazu bereit sind mitzumachen.

Das Ziel: die Rückkehr nach Moskau

Es sind Gedanken wie diese, für die viele Ukrainerinnen und Ukrainer Jaschin und andere Vertreter der russischen Opposition in den vergangenen Tagen kritisiert haben. Sie würden das russische Volk zu einfach davonkommen lassen, dies sei nicht nur Putins Krieg, sondern eine Gesamtverantwortung Russlands.

Jaschin versucht, solche Vorwürfe in seine Richtung gelassen zu sehen: "Wenn es jemandem in der Ukraine leichter fällt mit dieser Tragödie zu leben, wenn er mich oder andere in der russischen Opposition kritisiert oder beschimpft, dann nehme ich das an." Er sei ein Freund der Ukraine, habe doch dafür die Wahrheit über den Krieg zu sagen, sogar eine Haftstrafe in Kauf genommen.

Jaschin und Orlow wollen beide erst einmal in Berlin bleiben. Aber sie träumen schon jetzt von einer Rückkehr in ihr geliebtes Moskau. "Höchstens zehn Jahre wird Putins Regime noch andauern und es kann auch viel schneller gehen", sagt Orlow an seinem Büroschreibtisch. Und Jaschin sagt: "Vor Kurzem dachte ich, dass ich noch bis 2030 im Gefängnis sitze. Aber hier stehe ich als freier Mann in einem Berliner Park."