Holodomor-Gedenken in der Ukraine 90 Jahre "Tod durch Hunger"
Bei einer Gedenkfeier in Kiew hat die ukrainische Staatsführung der Opfer des Holodomor vor 90 Jahren gedacht. Damals ließ Sowjet-Diktator Stalin Millionen Ukrainer verhungern.
Eine Gruppe Hühner huscht durch den verschneiten Hof von Tante Lilia - so nennen die Dorfbewohner die alte Dame. 96 Jahre ist sie alt und bittet herein. Tante Lilia hat den Zerfall der Sowjetunion erlebt, die kommunistische Diktatur, den zweiten Weltkrieg. Aber eine humanitäre Katastrophe prägt ihr Leben bis heute: "Ich habe den Holodomor gerade so überlebt. Ich war dünn, und ich bin es immer noch. Ich habe damals fast nichts gegessen, ich habe Eicheln gekaut. Auch jetzt esse ich nicht viel. Die Leute fragen mich, warum ich so lange lebe. Weil ich wenig esse. Ich esse wenig, um meinen Magen nicht zu überlasten. Nur ein kleines bisschen."
Holodomor - also "Tod durch Hunger" - nennen die Menschen in der Ukraine die Hungersnot von 1932 und 1933, die der Deutsche Bundestag inzwischen als Völkermord anerkannt hat. 90 Jahre ist es her, dass Lilias Nachbarn und Klassenkameraden verhungerten, weil die Kommunisten den Bauern das Getreide wegnahmen. Lilia überlebte, weil sie im Wald Eicheln sammeln konnte, erzählt sie: "Im Wald haben die Toten gelegen. Sie sind dort zusammengebrochen und gestorben. Lange Zeit haben die Leichen dort gelegen. Niemand hat sie begraben, denn die Menschen hatten keine Kraft mehr. Die Krähen haben sie zerpflückt - und die Hunde. Ich habe immer noch Angst, an diese Orte im Wald zu gehen."
Ein Tabu zu Sowjetzeiten
Antonina Natoka stapft über den Friedhof des kleinen Dorfes. Sie zeigt auf das Denkmal für die Verhungerten. Es wurde erst vor vier Jahren hier errichtet. Natoka ist zu jung, um den Holodomor erlebt zu haben. In der Sowjetunion studierte sie Geschichte. Doch dort erfuhr sie nicht, dass Stalin die Bauern absichtlich verhungern ließ. "Weder in der Schule noch in der Universität wurde diese Tragödie erwähnt. Erst mit Beginn der Unabhängigkeit, als die Archive geöffnet wurden und Veröffentlichungen zu diesem Thema erschienen, wurde die Arbeit darüber intensiviert. Die Menschen begannen sich zu erinnern, was in den Familien geschah."
Natokas Vater erzählte ihr vom menschgemachten Hunger, von den Verwandten, die starben. Es war ein Schock, sagt sie heute.
Russlands Archive bleiben geschlossen
Das staatlich verordnete Schweigen macht es noch heute schwierig, die Geschichte des Holodomors aufzuarbeiten, erzählt Lesja Hasydschak, Direktorin des Holodomor-Museums in Kiew. "Ab dem Jahr 1991 wurde die Wahrheit über den Holodomor in der ukrainischen Gesellschaft immer bekannter. Wissenschaftler begannen, in den Archiven zu arbeiten, aber nur in den ukrainischen. Leider sind die russischen Archive geheim. Und wir wissen, dass die wichtigsten Dokumente vor allem dort sind."
Es ist ein kleines Museum mit dicken Büchern. Jedes dieser schwarzen Wälzer zählt die Toten einer ukrainischen Oblast auf. Viele Opfer konnten aber nicht identifiziert werden. Ukrainische Quellen gehen von mehr als vier Millionen Toten aus. Heute kommen die Menschen hierher, um ihre Familiengeschichte zu erforschen.
Aktueller denn je
Die Geschichte des Holodomors sei aktueller denn je, meint Hasydschak. "Die erste Lehre, die wir aus dieser Geschichte ziehen, ist, dass es sehr wichtig ist, seinen Staat zu schützen und zu stärken. Und es ist sehr wichtig, eine eigene Armee zu haben, die eine Wiederholung dieses Völkermordes in der Zukunft nicht zulässt." Eine weitere Lektion sei, dass wenn das Böse nicht bestraft wird, es immer wieder aufsteht und sich erhebt.
Im aktuellen Krieg gegen die Ukraine setzt Russland Lebensmittel wieder als Waffe ein. Recherchen zeigen, dass die Besatzungsmacht Getreide und andere Produkte von ukrainischen Bauern stiehlt und verkauft. Laut ukrainischen Medienberichten werden in einigen Teilen der besetzten ukrainischen Gebiete Holodomor-Denkmäler von russischen Besatzern zerstört.