Israel und Hamas vor Gaza-Offensive "Potenzial für eine humanitäre Katastrophe"
Eine Evakuierung des nördlichen Gazastreifens ist nach Ansicht des Nahostexperten Peter Lintl kaum organisierbar. Die Hamas kalkuliere das Leid und den Tod vieler Palästinenser perfide ein. Israel wiederum fehle eine Exitstrategie.
tagesschau.de: Die israelische Armee hat die Bevölkerung des nördlichen Gazastreifens aufgefordert, dieses Gebiet binnen 24 Stunden zu verlassen. Laut UN betrifft das ungefähr 1,1 Millionen Menschen. Ist es überhaupt möglich, in so kurzer Zeit die Gegend zu verlassen, in den Süden zu gelangen und dort eine Zuflucht zu finden?
Peter Lintl: Wenn wir nicht von einer Flucht Hals über Kopf sprechen, ist es kaum möglich, das logistisch sinnvoll abzuwickeln. Die Frage ist auch, wo sollen die Flüchtenden hin? Ägypten hat noch nicht die Grenzen geöffnet und hat angekündigt, nur 2.000 Flüchtlinge pro Tag aufzunehmen.
Es gibt jetzt schon Berichte, dass die Hamas Flüchtende zurückhält, weil sie ein Interesse daran hat, dass mehr Zivilisten in diesem Gebiet sind. Man wird eine Fluchtbewegung sehen, aber dass tatsächlich mehr als eine Million Personen sinnvoll evakuiert werden können, ist kaum vorstellbar.
"Potenzial für eine humanitäre Katastrophe"
tagesschau.de: So sieht es auch die UN und sagt verheerende humanitäre Folgen voraus.
Lintl: Der wahrscheinliche Bodeneinsatz der israelischen Armee hat das Potenzial für eine humanitäre Katastrophe. Es gibt im Süden nur wenige Anlaufpunkte für die Flüchtenden. Da wären die Schulen des UN-Hilfswerks UNRWA, aber die sind schon sehr voll.
Die israelische Armee sagt, die Flüchtenden sollen auf Felder gehen oder sie sollen versuchen, im Süden des Gazastreifens über den Fluss Gaza zu gehen und gegebenenfalls über die Grenze. Aber es gibt dort keine Auffangzentren, wo die Menschen hinkönnten.
"Stehen wohl unmittelbar vor einer Bodeninvasion"
tagesschau.de: Kann man aus der Aufforderung Israels militärisch etwas lesen? Steht jetzt ein breiter Angriff unmittelbar bevor?
Lintl: Es hat sich in den vergangenen Tagen schon abgezeichnet, dass nach diesen monströsen Terrorangriffen Israel kein anderer Weg möglich scheint als die Zerschlagung der Herrschaft der Hamas im Gazastreifen. Das deutet sich durch diese Ankündigung jetzt an.
Wir stehen wohl unmittelbar vor einer Bodeninvasion, die sicher von ganz massiven und beispiellosen Luftschlägen begleitet wird, wie wir sie schon in den vergangenen Tagen gesehen haben. Die israelische Armee scheint vorzuhaben, alle Hamas-Terroristen, die in diesem Gebiet bleiben, zu eliminieren. Der Plan ist offenbar, jedes Haus nach ihnen zu durchsuchen.
"Je länger dieser Krieg dauert, desto besser für die Hamas"
tagesschau.de: Gaza-Stadt ist dicht bebaut. Ist das ohne große Verluste auch auf israelischer Seite überhaupt denkbar?
Lintl: Sicherlich nicht. Wenn diese Strategie so durchgeführt wird, wird es Tausende, vielleicht sogar Zehntausende Tote geben. Die Perversität an diesem Szenario ist: Je länger dieser Krieg andauern wird, desto besser ist es für die Hamas. Je mehr Soldatinnen und Soldaten die israelische Armee verlieren wird, desto größer wird der gesellschaftliche Druck im Inland werden.
Gleichzeitig wird der internationale Druck auf Israel steigen, je mehr tote Palästinenserinnen und Palästinenser man sehen wird. Das heißt, die Hamas gewinnt auch an toten Palästinensern. Das ist ihr perfides Kalkül und auch die Gefahr für Israel.
"Die Hamas glaubt, als Sieger hervorgehen zu können"
tagesschau.de: Teilen Sie den Eindruck, dass die Hamas in der ganzen langen Vorbereitung ihres Terrorangriffs genau darauf hingesteuert hat?
Lintl: Es scheint so zu sein, dass die Hamas mit ihrem Terrorangriff eine israelische Reaktion provozieren wollte und zu glauben scheint, dass sie einem Angriff standhalten kann und sogar in irgendeiner Form als Sieger daraus hervorgehen kann - als moralischer Sieger in der arabischen Welt, als Sieger der Bilder.
Wir werden sicherlich auch eine Flut von Fehlinformationen demnächst sehen, und es stellt sich so dar, als ob das ein Teil des Hamas-Plans gewesen ist.
"Ziel wird von der gesamten israelischen Gesellschaft geteilt"
tagesschau.de: Kann Israel überhaupt anders als mit Härte reagieren auf einen beispiellosen Angriff, der zu der größten Zahl an jüdischen Opfern an einem Tag seit dem Holocaust geführt hat?
Lintl: Mir war von Anfang an klar, dass Israel nach diesem barbarischen Terroranschlag aus seiner Sicht kaum etwas anderes übrigbleibt, als sicher zu stellen, dass sich solch ein Angriff nicht wiederholt. Ich glaube, dieses Ziel wird von der gesamten israelischen Gesellschaft und der gesamten Politik geteilt. Dazu muss man die Hamasherrschaft brechen.
Wenn man das aber auf die militärischen Möglichkeiten und Rationalitäten runterbricht, ist nicht klar, ob und wie das gelingen kann. Einige israelische Militärexpertinnen und -experten haben darauf hingewiesen, dass nicht klar sei, was der genaue Plan ist und ob es eine Exitstrategie gibt. Welche Ziele müssen also erreicht werden, damit Israel den Gazastreifen wieder verlässt? Ohne einen solchen Plan läuft Israel Gefahr, sich in einem endlosen Kampf zu verlieren.
"Israelische Politik stark in der Kritik"
tagesschau.de: Ist das auch der Kürze der Zeit geschuldet und dem Umstand, dass Armee und Politik auf einen solchen Angriff nicht vorbereitet waren?
Lintl: Es liegt in der Natur der Sache, dass man in irgendeiner Form schnell reagieren muss. Es gibt immer noch 100 bis 150 Geiseln in der Gefangenschaft der Hamas.
Dass man nicht vorbereitet war, ist eine anderer Aspekt. Dies wird gerade in der israelischen Gesellschaft diskutiert. Warum wussten die Geheimdienste nichts von diesem Angriff? Warum war das israelische Militär nicht vorbereitet genug?
Auch die israelische Politik wird stark in die Kritik genommen. Die Umfragewerte von Premierminister Benjamin Netanyahu sind in den Keller gerutscht. Das heißt, ihm wird eine deutliche Mitschuld gegeben.
"Die Geiseln sind ein enormes Faustpfand"
tagesschau.de: Das bedeutet auch, dass die Aussichten für die Geiseln denkbar schlecht sind.
Lintl: Die Geiseln sind ein enormes Faustpfand für die Hamas, das sie gegebenenfalls medienwirksam nutzen wird. Sie hat schon angekündigt, Geiseln hinzurichten und das wird noch einmal dramatische Bilder erzeugen.
Israel wird jetzt wahrscheinlich versuchen, Geiseln mit Spezialoperationen zu befreien. Das wird vielleicht mit einigen, aber sicher nicht mit allen gelingen. Eine zweite Möglichkeit ist, dass es über Dritte Verhandlungen über einen Gefangenenaustausch gibt. Hier hat sich Katar ins Spiel gebracht. Auch Deutschland hat in der Vergangenheit mehrfach erfolgreich vermittelt.
Ein Szenario könnte sein, dass klassisch Alte, Kinder und Frauen gegen Hamas-Häftlinge in Israel ausgetauscht werden oder dass Israel für eine Freilassung Strom und Wasser wieder für längere Zeit anstellt. Das ist ein israelisches Verhandlungspfand, das es vermutlich einsetzen wird. Aber wir müssen damit rechnen, dass viele Geiseln einfach ermordet werden.
Vier Szenarien für die Zeit nach dem Krieg
tagesschau.de: Ich greife Ihren Begriff von der Exitstrategie auf - welche Szenarien sehen Sie für ein Ende des Militäreinsatzes und für die Zeit danach?
Lintl: Die zentrale Frage ist, was passiert danach - und die kann man derzeit nicht gut beziehungsweise nicht mit einem guten Szenario beantworten. Ich halte vier Szenarien für möglich. Das erste wäre: Israel gelingt es, die Hamas-Herrschaft zu zerschlagen, zieht sich dann aus dem Gazastreifen zurück und überlässt ihn lokalen Warlords. Der Gazastreifen würde dann zu einer Kampfzone.
Das zweite Szenario: Israel besetzt den Gazastreifen militärisch ohne eine Involvierung der Autonomiebehörde, so wie es schon vor dem Osloer Abkommen von 1995 der Fall war. Das würde zu einer permanenten Auseinandersetzung zwischen dem israelischen Militär und den Bewohnern oder Kämpfern dort führen.
Israel könnte auch versuchen, die Palästinensische Autonomiebehörde wieder in den Gazastreifen zu bringen. Das birgt eigene Schwierigkeiten, weil die Palästinensische Autonomiebehörde schon im Westjordanland von der Bevölkerung sehr kritisch gesehen und insbesondere wegen ihrer Sicherheitszusammenarbeit mit Israel als Erfüllungsgehilfin der Besatzung kritisiert wird. Wenn also eine Autonomiebehörde im Gazastreifen von Israel installiert würde, hätte sie dort sicherlich keine große Legitimation. Eine weitere Möglichkeit wäre, die Autonomiebehörde mithilfe internationaler Partnerinnen und Partner, mit den arabischen Staaten und dem Westen, im Gazastreifen zu etablieren. Aber das ist sehr theoretisch.
Ebenso wenig wahrscheinlich oder erfolgversprechend ist, eine internationale Verwaltung im Gazastreifen einzusetzen, vielleicht durch arabische Staaten. Ich sehe aber keinen Staat, der dazu bereit wäre. Deshalb gibt es derzeit auf die Frage, was danach kommt, keine sehr guten Antwort.
"Es wird schwer werden, die humanitäre Lage zu verbessern"
tagesschau.de: Das sind düstere Aussichten, die vor allem nach Hoffnungslosigkeit klingen.
Lintl: Es ist eine aussichtslose Lage. Man kann im Moment nur versuchen, humanitäre Korridore zu schaffen, man kann versuchen, mit Ägypten zu reden, damit das Land mehr Flüchtlinge aufnimmt. Dafür will das Land sicher Geld bekommen.
Es geht darum, die humanitäre Lage irgendwie zu verbessern. Aber das wird in den kommenden Wochen sehr, sehr schwierig werden.
Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de