Nach dem Angriff auf Israel "Das zertrümmert die Vorstellungskraft"
In Israel sitzt der Schock nach dem Hamas-Angriff unverändert tief. Der Autor Ofer Waldman beschreibt, wie er die Tage seither erlebt hat, wie die Bevölkerung zusammenrückt und die Schwierigkeit, Kindern die Gräueltaten zu erklären.
tagesschau.de: Wie haben Sie die den Angriff der Hamas-Terroristen und die Tage danach erlebt?
Ofer Waldman: Wir befinden uns seit Samstag in einem Albtraum, aus dem wir immer noch nicht erwacht sind. Mit jeder Stunde, die verging, ist das Grauen immer unvorstellbarer geworden - mit Bildern, mit Nachrichten, die die menschliche Vorstellungskraft zertrümmern. Mit einem Entsetzen, das auch kein israelisches oder deutsches oder arabisches Entsetzen ist, sondern ein menschliches Entsetzen vor diesem Zivilisationsbruch.
Seitdem funktioniert man. Man versucht, Ordnung in die Welt zu bringen, die Kinder vor diesen Nachrichten zu beschützen, den eigenen Bunker für alle Fälle fertig zu machen, Lebensmittel für die Evakuierten, für die Reservisteneinheiten zu sammeln und nach Worten zu ringen, um darüber der Welt zu berichten.
Zur Person: Ofer Waldman lebt bei Haifa und ist Autor, Publizist und Berater von Nicht-Regierungsorganisationen. Nach Deutschland kam er 1999 erstmals als Musiker und war bis 2014 als Hornist Teil renommierter Orchester. Mitte Oktober begann Waldman für die Klassik Stiftung Weimar einen literarischen Dialog mit Sasha Marianna Salzmann über ihre Erfahrungen in der Zeit nach dem Terroranschlag der Hamas. Ihre Korrespondenz erscheint im April als Buch unter dem Titel "Gleichzeit. Briefe zwischen Israel und Europa".
"Wie soll man das Kindern begreiflich machen?"
tagesschau.de: Gibt es in ihrem Umfeld Menschen, die direkt oder mittelbar von den Angriffen betroffen waren oder weiterhin sind?
Waldman: Israel ist ein kleines Land mit einer kleinen Bevölkerung, und der Ort, in dem ich lebe, ist nur 140 Kilometer vom Gazastreifen entfernt. Seit Samstagvormittag häufen sich die Schreckensmeldungen über gefallene Verwandte von Freundinnen und Freunden. Man sieht es auch in den sozialen Medien, sieht Menschen, die nach ihren Lieben suchen.
Es sind so viele verschleppt worden und auch heute haben wir noch nicht das ganze Bild, wer ermordet, wer verschleppt wurde. Gerade gestern haben meine Frau und ich versucht, mit unserer Tochter darüber zu reden, dass der Cousin einer ihrer besten Freundinnen aus der Schule getötet worden ist.
tagesschau.de: Kann man das Kindern überhaupt in irgendeiner Form begreiflich machen?
Waldman: Wie soll man das Kindern begreiflich machen? Wie soll man Kindern begreiflich machen, dass Menschen, die in unmittelbarer Nähe leben, dazu fähig sind, auf kleine Kinder zu schießen, Mütter mit Kleinkindern auf dem Arm zu verschleppen, auf alte Menschen zu schießen, zu vergewaltigen, zu morden? Ich kann und will nicht mal versuchen, das meinen Kindern zu erklären. Ich glaube, das geht auch nicht.
Ich frage mich als Mensch, wie kann es sein, dass solche Taten Teil unserer Welt sind? Welche Worte findet man dafür? Ich sitze nach jedem Interview und weine, weil unsere Welt zusammengebrochen ist und ich mir keine zukünftige Welt vorstellen kann. Aber man muss davon berichten. Das zerreißt mich bei jedem Gespräch.
tagesschau.de: Es ist kaum vorstellbar, darüber mit Kindern zu reden.
Waldman: Die Kinder merken natürlich seit Samstagmorgen, wie angespannt die Lage ist. Sie können das an unseren Gesichtern ablesen. Man versucht, ihnen das Gefühl zu geben, dass zumindest Teile der Welt, die seit Samstagmorgen zerbrochen wurde, noch zu retten sind. Trotz der Panzerkolonnen auf den Straßen, trotz der Kampfflieger, die in diesem Moment über unsere Köpfe hinwegfliegen, trotz der fast greifbaren schweren Atmosphäre um uns.
Sie wissen, dass Krieg ist. Für viele ist es nicht der erste Krieg. Wir leben nun mal in Israel, aber wir versuchen selbst in dieser schweren Stunde, an den Tag danach zu denken. Und da bin ich mächtig stolz auf meine Kinder. Meine ältere Tochter fragte, was ist eigentlich mit den Kindern in Gaza?
"Wir versuchen, uns auf alles einzustellen"
tagesschau.de: Ihr Wohnort bei Haifa liegt in der Nähe der Grenze zum Libanon, aus dem es ja auch Angriffe gegeben hat. Wie gehen Sie damit um und was können Sie in dieser Situation tun?
Waldman: Am Samstagmorgen war ganz schnell klar, dass es auch im Norden zu eskalieren droht. Wir haben dann Lebensmittel, Wasserflaschen und Batterien in den Bunker gestellt. Dort steht auch mein Schreibtisch, damit ich auch in krisenhaften Situationen weiterschreiben kann. Wir versuchen, uns auf alles einzustellen.
Wir sehen allerdings im Gegensatz zu unserer unfähigen politischen Führung eine starke politische Führung aus den USA. Der US-amerikanische Präsident hat sich stark an die Seite Israels gestellt und Flugzeugträger in unsere Region geschickt als deutliches Zeichen an die anderen Feinde Israels. Die Botschaft ist: Wagt es nicht, die momentane Schwäche Israels auszunutzen.
"Was will man mit einer Bodenoffensive erreichen?"
tagesschau.de: Die israelische Armee hat mehr als 300.000 Reservisten einberufen. Rechnen Sie denn damit, dass es zu einer Bodeninvasion in den Gazastreifen kommt?
Waldman: Ich bin kein Militärexperte. Ob es jetzt zu einer Bodenoffensive kommt oder nicht, das weiß ich nicht. Alle rechnen damit. Aber es scheint so, dass die Regierung noch mit sich ringt, was am fünften Tag des Krieges für die Bevölkerung unbegreiflich ist. Trotz des Rufs nach politischer Einheit taktiert man nach wie vor und scheint nicht zu begreifen, was gerade passiert ist.
Und da ist natürlich auch die Frage, was im Fall einer Bodenoffensive mit den mehr als 100 Israelis, zum Teil Kleinkindern, alten Menschen, geschieht, die verschleppt wurden und jetzt im Gazastreifen sind. Und was will man mit einer solchen Bodenoffensive erreichen? Man hat nichts gelernt und hat vergessen, dass wir schon mal im Gazastreifen waren. Was hat es gebracht - außer mehr Toten und mehr Leid - für die Zivilbevölkerung auf israelischer Seite und auch palästinensischer Seite?
tagesschau.de: Ich höre aus Ihren Worten eine starke Skepsis gegenüber einem solchen Schritt heraus.
Waldman: Wir sind im Krieg. Die Hamas hat den Krieg erklärt. Nun liegt auch eine offizielle Erklärung zum Kriegszustand seitens der israelischen Regierung vor. Dieser Aufbruch in eine neue, brutale Welt, der selbst die Taten des IS übertrifft, erfordert natürlich eine Antwort. Wir sind im Nahen Osten. Man darf hier keine Schwäche zeigen. Und Krieg ist Krieg.
Aber was wir heute machen, wird auch über den Tag nach dem Krieg entscheiden. Und es ist meine Hoffnung, dass man bei aller Unterstützung und auch bei aller Wut auch an diesen Tag danach denkt. Die Hamas ist dem Tode geweiht, was sie auch offenbar wollen und selbst mit ihren Handlungen beschlossen haben. Aber nicht das palästinensische Volk, nicht die Zivilbevölkerung im Gazastreifen.
"Jetzt ist die israelische Gesellschaft vereint"
tagesschau.de: Es gab in den vergangenen Monaten eine tiefe Spaltung in der Gesellschaft im Streit über die geplante Justizreform der Regierung. Hat das Ihrer Meinung nach eine Rolle bei den Angriffen jetzt gespielt und ist die Spaltung für den Moment überwunden?
Waldman: Das sind zum Teil Fragen, die noch im Nebel des Krieges nicht zu klären sind. Auch die Frage nach der Verantwortung dafür, dass die Hamas so angreifen konnte. Wie konnte das passieren? Dass Israel gespalten war wie nie zuvor, ist offensichtlich. Vielleicht war das auch der Grund für den Angriff.
Jetzt ist die israelische Gesellschaft aber vereint. Die Netzwerke der Protestbewegung werden benutzt, um Hilfe für die Evakuierten zu sammeln, auch für die Soldatinnen und Soldaten der Reserve. Da hat man Israel offenbar unterschätzt. Aber diese Einheit gilt nicht der Regierung, denn die ist mit sich selbst beschäftigt.
Und wenn ich sage, dass die israelische Gesellschaft jetzt vereint ist, meine ich jüdische und arabische Israelis. Wir sehen hier im Norden arabische Ladenbesitzer, die ebenfalls Lebensmittel zu den Evakuierten aus der Grenzregion zum Gazastreifen bringen. Es gibt einen Geist der Solidarität in Israel, der von der Regierung unabhängig ist.
"Es wird gefragt, wo die Armee war"
tagesschau.de: Die israelischen Sicherheitsdienste haben international einen hervorragenden Ruf. Und dann kam dieses Wochenende. Hat das das Vertrauen der Bevölkerung in die Sicherheitsdienste erschüttert?
Waldman: Auch das sind zum Teil Fragen, die erst nach dem Ende der Kampfhandlungen diskutiert werden können. Aber sie nagen an uns allen. Wie konnte das passieren? Normalerweise kann sich keine Fliege in der Nähe der Grenze bewegen, ohne dass man davon Wind bekommt. Und jetzt reden wir von mehr als 1.500 Terroristen, die über die Grenze gekommen sind. Das sind übrigens keine Freiheitskämpfer, sondern es sind Bestien, die sich von der menschlichen Gesellschaft verabschiedet haben.
Natürlich wird jetzt gefragt, wieso die Geheimdienste offenbar blind waren für diese Entwicklungen, für die Vorbereitungen, die nicht nur im Gazastreifen getroffen worden sind, sondern auch anderswo durch andere Feinde Israels. Es wird auch gefragt, wo die Armee war, nachdem der Angriff begonnen hatte. Sie war offenbar woanders beschäftigt. Aus welchem politischen Grund?
Man fragt sich auch, ob die Auseinandersetzungen zwischen den Siedlern, die sehr viel Rückenwind von dieser Regierung bekommen, und den Palästinensern im Westjordanland der Grund waren, weshalb die israelische Armee abgelenkt war, wieso sie an der Grenze zum Gazastreifen gefehlt hat. Das sind schmerzhafte Fragen, die hoffentlich alle nach Ende der Kampfhandlungen geklärt werden.
"Das Schweigen wiegt schwer"
tagesschau.de: Was erhoffen Sie sich nun von Deutschland und der EU?
Waldman: Die vielen Solidaritätsaktionen in Deutschland sind bewegend. Dafür sind die Bilder jubelnder Palästinenser aus Berlin-Neukölln, meiner einstigen Nachbarschaft, mehr als schmerzhaft. Sie sind ekelerregend. Das Schweigen palästinensischer Freundinnen und Freunde, Weggefährten, und Aktivisten, die das berechtigte Ziel eines unabhängigen Palästinas verfolgen, wiegt schwer und überschattet auch den Tag danach.
Was die Solidarität Deutschlands angeht: Man liest, dass Deutschland und die EU erwägen, die Hilfsgelder für die Palästinenser einzufrieren. Bei aller berechtigten Wut muss man aufpassen, nicht die palästinensische Zivilgesellschaft zu treffen, die eigentlich bemüht ist, ein friedliches Palästina aufzubauen. Es sollte eine Solidarität mit Israel sein, nicht gegen etwas. Es gibt jetzt vieles, was man machen kann, um die israelische Gesellschaft zu stärken und den trauernden, schmerzerfüllten Menschen beizustehen.
Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de