Parade trotz Verbots Zahlreiche Festnahmen beim Istanbul Pride March
Trotz des Verbots der Pride-Parade sind in Istanbul Hunderte Menschen für die Rechte von LGBTQ-Menschen auf die Straße gegangen. Es gab etliche Festnahmen - teils auch von Journalisten.
Das zentrale Istanbuler Viertel Beyoglu ist abgeriegelt, der Taksim-Platz leer hinter Polizeigittern. Weiße Busse bringen Hunderte Polizistinnen und Polizisten. Wir begleiten die Journalistinnen Hazal Sipahi und Candan Yildiz, die den Pride March verfolgen wollen.
Hazal liest eine neue Nachricht aus der Pride March-Telegram-Gruppe vor: "Liebe Queers, lasst uns den Sicherheitskräften gegenüber nicht zu auffällig sein und unsere Standorte verraten. Setzt euch einfach irgendwohin, bis es losgeht."
Es heißt, die Demonstration finde im Viertel Nisantasi nebenan statt, das für gehobenes Shopping bekannt ist. Wo genau, bleibt zunächst aber noch geheim. Wir machen uns auf den Weg und kommen am Straßenrand mit Yunus ins Gespräch: "Natürlich hat der Druck zugenommen. Seit 2015 werden Pride-Märsche systematisch verboten. Sie können sie zwar verbieten, aber nicht verhindern."
Proteste jedes Jahr
2014 - im Jahr nach den regierungskritischen Gezi-Protesten - hatten mehr als 100.000 Menschen in Istanbul an der Pride teilgenommen. Dem Verbot ein Jahr später zum Trotz wird jedes Jahr dennoch demonstriert. 2022 endete das mit massiver Polizeigewalt und etwa 200 Festnahmen. Deswegen die Vorsicht.
Dann kommt die nächste Nachricht: Die Demonstration ist auf einem Platz um die Ecke. Etwa 200 Menschen mit Regenbogenfahnen sind plötzlich da. Eine Erklärung wird verlesen, die sich gegen die queerfeindliche Politik von Präsident Erdogans Regierung stellt. Queere Menschen seien immer da gewesen und man werde sich nicht kleinkriegen lassen.
Zwei Teilnehmer der Demonstration sitzen auf einer Straße, die türkische Polizisten blockieren.
Polizei kesselt Menschen ein
Es sind nur wenige Augenblicke, dann zieht die Gruppe los. Der zeitliche Vorsprung ist knapp, Polizisten in Zivil rennen ihnen bereits durch die Straßen nach, uniformierte Polizei kommt auf Motorrädern. Auch die Journalistinnen Hazal und Candan gehen dem Zug hinterher.
An einer Straßenecke geht es plötzlich ganz schnell: Polizisten kesseln unsere Gruppe ein, ich werde nach hinten gedrängt, zwischen mir und den Kolleginnen jetzt ein Ring aus Polizisten, während um den Polizeiring herum andere Journalisten sofort anfangen, die Situation zu filmen. Im Kessel befindet sich noch ein Mann in einem bunten Hemd. Immer mehr Polizei kommt, die Straße wird komplett abgesperrt, es ist unübersichtlich.
Ein junger Mann in einem Regenbogenshirt kann es nicht fassen: "Ich habe vier- oder fünfmal gerufen, dass sie sie frei lassen sollen, sie haben das Recht, hier zu sein, und sie haben das Recht darauf, gehen gelassen zu werden."
Erdogans Feindbild
Was den beiden Journalistinnen und dem Mann, einem Tänzer, vorgeworfen wird, weiß der Anwalt Eren nicht. Auch er ist im Pride March mitgelaufen. "Sie erklären es einfach nicht. Ich habe ihnen gesagt, wenn ihr ein Problem mit Regenbogen habt, dann nehmt doch mich. Ich bin auch mitmarschiert, also könntet ihr auch mich festsetzen!"
Der stellvertretende Polizeipräsident von Istanbul liefert sich ein Wortgefecht mit der Journalistin Candan. Er ist der Mann, der mutmaßlich für das brutale Vorgehen der Polizei im vergangenen Jahr verantwortlich ist. Freilassen will er die Journalistin nicht. Gefangenentransporte nähern sich, die Straße wird geräumt. Wir sehen jetzt von Weitem zu.
Die türkische Politik unter Präsident Recep Tayyip Erdogan hat die LGBTQ-Szene schon seit Längerem als Feindbild ausgemacht. Im Wahlkampf hatte Erdogan queere Menschen immer wieder als Terroristen und Perverse bezeichnet, die die traditionelle Familie angreifen würden. Auch nach dem Wahlsieg hat sich diese Rhetorik nicht geändert. Expertinnen und Experten befürchten, dass sich die Lage queerer Menschen in der Türkei weiter verschlechtert.
Journalistinnen werden freigelassen
Nach etwa einer halben Stunde ist dann alles vorbei: Der Mann, der mit ihnen im Kessel war, wird abgeführt. Die Journalistinnen Hazal und Candan werden freigelassen. "Ich fühle mich okay. Ein bisschen gestresst, aber ich bin okay", sagt Hazal ziemlich k.o.
Candan hingegen kann schon wieder Interviews geben: "Die LGTBQ-Szene wird von der Regierung kriminalisiert, um ein Feindbild zu erschaffen, das die Unterdrückung in der Türkei legitimieren soll." Auch Journalismus werde immer schwieriger. "Stell dir mal vor, es gäbe in der Türkei niemanden mehr, der darüber berichtet, dass heute in Nisanstasi 30 Menschen festgenommen worden sind?"
Das Veranstaltungskomitee der Istanbul Pride erhöht die Zahl später noch: Bis zu 60 Menschen seien von der Polizei festgenommen worden, heißt es. Auch wenn am Nachmittag alles schnell vorbei ist, stehen die Polizeiabsperrungen in Istanbul bis in den späten Sonntagabend hinein.