Der Boden, der nach dem Bruch des Dammes Kachowka ausgetrocknet ist. (Archivfoto: 05.06.2024)

Nach Kachowka-Katastrophe Ein Stausee wird zum Urwald 

Stand: 05.09.2024 05:25 Uhr

Im Juni 2023 wurde der Kachowka-Staudamm im Südosten des Ukraine zerstört. Ganze Landstriche standen danach unter Wasser. Inzwischen holt sich die Natur das Gebiet zurück. Doch die Wasserversorgung bleibt ein Problem.

Von Niels Bula, ARD-Studio Kiew

Wadym Manjuk kämpft sich durch dichtes Gestrüpp aus Schilf, Gräsern und jungen Bäumen. Der Ökologe kommt regelmäßig in das Gebiet in der Nähe der Stadt Saporischschja, macht Fotos von Pflanzen und Tieren. "In diesem Auwald leben Wildschweine, Hasen, Füchse und Fasane", sagt er. Das Gebiet sei einzigartig in seiner Größe und Unberührtheit. "Wenn man es zum Naturschutzgebiet machen würde, wäre es das größte Reservat der Ukraine. "

Wo sich jetzt Weiden, Pappeln und unzählige andere Pflanzen im Wind wiegen, war vor mehr als einem Jahr noch alles voller Wasser. Hier war der Kachowka-Stausee - mit fast 2.200 Quadratkilometern Gesamtfläche größer als Berlin, Hamburg und Bremen zusammen. An seiner tiefsten Stelle waren es 32 Meter bis zum Grund. Wegen dieser gewaltigen Ausmaße wurde er auch Kachowka-Meer genannt.

Zerstörter Damm

Bis zum 6. Juni 2023. An diesem Tag wurde der Staudamm zerstört. Die Ukraine macht Russland dafür verantwortlich. Die Wassermassen flossen ab, wie aus einer gigantischen Badewanne, bei der der Stöpsel gezogen wurde. Der Fluss Dnipro, der hier einst aufgestaut war, kehrte in sein ursprüngliches Bett zurück. Nur noch Muscheln und Schneckenhäuser auf dem Boden erinnern heute daran, dass hier einmal ein Stausee war.  

"Jetzt fliegen hier Schwalben über die Baumgrenze", sagt Manjuk. Er schaut mit seinem Fernglas über das Urwald-Dickicht. "Sie fliegen nicht nur herum, sie jagen." Das bedeute, dass es über dem Wald genügend Insekten gebe. "Und das ist eine gute Nahrungsgrundlage für Schwalben. Das heißt, das Ökosystem entwickelt sich allmählich in die richtige Richtung für uns." 

"Alles wurde zerstört"

Der Wissenschaftler ist begeistert von Flora und Fauna. Wirklich neu ist all das hier nicht. Bevor der Staudamm in den 1950er-Jahren gebaut wurde, bedeckte schon einmal ein dichter Wald das Gebiet.  

"All das wurde zerstört", sagt er. "Und, um ehrlich zu sein, die meisten Umweltschützer, sahen es als eine Tragödie an, an der man nichts ändern kann." Niemand habe daran geglaubt, dass es jemals wieder eine Wiederbelebung dieses Waldes geben würde. "Was jetzt geschehen ist, ist ein echtes Wunder." An dieser Stelle hat die Zerstörung des Dammes sogar etwas Gutes für die Natur bewirkt, meint der Ökologe. 

Die Wasserversorgung ist beeinträchtigt

Die Gemeinde Malokateryniwka grenzt direkt an den ehemaligen Kachowka-Stausee. Mehr als 3.000 Menschen leben hier. Kurz vor der Mittagszeit kommen einige aus ihren Häusern gelaufen und schauen erwartungsvoll in eine Richtung. Ihr Blick ist auf einen Tanklaster gerichtet, der im Schritttempo die Straße entlangfährt und immer wieder vor den Einfamilienhäusern Halt macht. Er hat Trinkwasser geladen. 

"Gestern Nacht gab es gar kein Wasser und in dieser Nacht kam welches, aber nicht sehr viel", sagt Olena Frolowa. Sie steht vor ihrem Haus - und mit ihr mehrere Eimer und Kanister. Seit der Zerstörung des Kachowka-Staudamms kommt bei ihr kaum noch Wasser aus der Leitung, vor allem an trockenen und heißen Tagen wie heute. Wenn es fließt, dann nur in der Nacht für kurze Zeit. Andere Bewohner haben gar kein Leitungswasser mehr. Die ganze Gemeinde ist auf die Tanklaster angewiesen.

Zwei Mitarbeiter vom staatlichen Katastrophenschutz füllen mit Schläuchen Wasser aus dem Tankwagen in Frolowas Eimer.  

Nicht das einzige Problem

"Ich bin so glücklich, denn ohne Wasser kann man einfach nicht leben", sagt sie. "Ich habe eine Tochter. Sie ist zwölf Jahre alt. Ich muss Wäsche waschen und kochen. Dann habe ich noch zwei Hunde." 

Und auch ihre Pflanzen verlangen nach Wasser. Hinter ihrem Haus hatte sie Obst und Gemüse angebaut. Das konnte sie verkaufen und ihre Familie damit ernähren. Doch nun sei alles vertrocknet, sagt sie und zeigt ihre braunen, verkümmerten Erdbeerpflanzen. "Das ist wirklich traurig. Ich habe so viel Arbeit da reingesteckt."

Der Wassermangel ist nicht das einzige Problem in Malokateryniwka. Nur 15 Kilometer entfernt von hier verläuft die Frontlinie. Ab und zu sind ferne Explosionen zu hören. Doch Frolowa bleibt gelassen. 

"Wir haben uns schon daran gewöhnt", sagt sie. "Das ist unser Militär, wie sie gerade Drohnen abschießen. Die Russen lassen ihre Drohnen hier überall herumfliegen und wollen spionieren."  

Das fehlende Wasser bereitet den Einwohnern der Region größere Sorgen. In der benachbarten Gemeinde Kuschuhum versuchen Bauarbeiter, neue Wasserreserven anzuzapfen.

Auch der Fluss verliert Wasser

Am Ufer eines Flusses graben sie mit einem Bagger in der Erde. Die Rohre, die zu einer Pumpstation führen, werden tiefer gelegt. Doch Volodymyr Sosunowskyj glaubt nicht, dass damit das Problem langfristig gelöst wird. Laut dem Bürgermeister der Gemeinde verliert auch dieser Fluss immer mehr Wasser. 

"Wir hoffen einfach inständig, dass es im Winter viel regnen wird und der Wasserspiegel insgesamt auch wieder steigt an allen Punkten. Und dass es im Sommer überhaupt mal wieder regnet." Es sei alles extrem trocken. "Und das wird immer wieder zu Problemen führen." 

Der Bürgermeister will, dass der Kachowka-Staudamm wieder aufgebaut wird. Ohne ihn, so glaubt er, kann die Wasserversorgung in der Region nicht funktionieren.  

Einst ein Naherholungsgebiet

"Die Menschen, die ihre Gärten nicht mehr ausreichend bewässern können, werden sonst einfach wegziehen. Früher kamen so viele Menschen hierher", erzählt der Bürgermeister, "sie haben sich hier ihre Wochenendhäuser gebaut. Das war ein Naherholungsgebiet für die Einwohner der Stadt Saporischschja. Ohne Wasser verlieren wir an touristischer Attraktivität - und unsere ökologische, wirtschaftliche und finanzielle Grundlage." 

Ein neuer alter Kachowka-Stausee: Dort, wo jetzt die Natur wieder Einzug gehalten hat, scheint das aber kaum möglich. Der Ökologe Wadym Manjuk lehnt einen Wiederaufbau des Staudamms strikt ab. Die Fluten würden den einzigartigen Wald und seine Bewohner vernichten, meint Manjuk. 

"Stellen Sie sich die Milliarden von jungen Bäume vor, zusammen mit den Insekten, die sich dort niedergelassen haben, und den anderen Tieren. Diese gesamte Vielfalt würde erneut zerstört werden. Es wäre die größte Absurdität, die man sich vorstellen kann."  

Isolierte Wasserreservoire

Manjuk und andere Wissenschaftler schlagen deshalb eine völlig neue Wasserversorgung für die Region vor: "Anstatt eines offenen Stausees könnten kleinere, isolierte Wasserreservoire angelegt werden. Diese könnten Wasser im Frühling aufnehmen, wenn der Wasserstand im Dnipro hoch ist, und dieses Wasser könnte dann während der Saison für Bewässerung und den menschlichen Bedarf genutzt werden. Außerdem könnte man die Pumpstationen weiter ausbauen und auch Trinkwasser aus dem Dnipro direkt entnehmen. Die Wassermenge im Fluss ist nach wie vor gleich geblieben." 

Doch mit dieser Meinung scheinen die Ökologen und Umweltschützer bisher allein zu sein. Die ukrainische Regierung und der Betreiber des Wasserkraftwerks Ukrhydroenergo wollen den Kachowka-Staudamm wiederaufbauen.  

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 04. September 2024 um 11:40 Uhr.