Kosovo-Sondertribunal Hoffen auf Aufklärung und Gerechtigkeit
Fast 22 Jahre nach dem Krieg im Kosovo beginnt in Den Haag der erste Prozess vor dem Kosovo-Sondertribunal. Auf der Anklagebank: ranghohe UCK-Funktionäre sowie der frühere Präsident Thaci.
Das Leben in der kosovarischen Hauptstadt Pristina geht seinen gewohnten Gang. Studierende treffen sich in Parks, der Markt ist gut besucht. Doch unter der Oberfläche brodelt es. Der bevorstehende erste Zusammentritt des Kosovo-Tribunals in Den Haag spaltet die Gesellschaft.
Da sind die, die das Gericht für einseitig halten, weil es sich nur mit Tätern aus dem Kosovo beschäftigt - und nicht mit denen auf der anderen Seite, mit den Serben. Und da sind die Familien der mehr als 13.500 Opfer dieses Krieges, die 22 Jahre nach Ende der Auseinandersetzung endlich auf Gerechtigkeit hoffen und auf Antworten zum Verbleib ihrer Angehörigen. Mehr als 2000 Menschen gelten noch immer als vermisst.
Vorwurf: Gräueltaten, Folter und Mord
In Den Haag beim Sondertribunal für das Kosovo will man die Verantwortlichen dafür nun zur Rechenschaft ziehen. Das Sondergericht wurde 2015 auf westlichen Druck ins Leben gerufen. Es ist zwar eine Institution nach kosovarischem Recht, hat seinen Sitz wie viele internationale Gerichtshöfe aber im niederländischen Den Haag. Weder die Richter noch die Staatsanwälte kommen aus dem Kosovo. Ihre Aufgabe: Sie sollen die Ereignisse zwischen Januar 1998 und Dezember 2000 aufarbeiten.
In diesem ersten Verfahren auf der Anklagebank: Salih Mustafa, der Leiter eines berüchtigten Straflagers im Kosovo. Der Chefankläger wirft ihm willkürliche Gräueltaten, Folter und Mord vor. 16 Zeugen sollen gegen ihn aussagen.
Politische Schwergewichte auf der Anklagebank
Insgesamt hat das Gericht mittlerweile in verschiedenen Verfahren Anklage gegen acht Männer erhoben. Seit etwa einem Jahr sitzen diese Schlüsselfiguren der ehemaligen Befreiungsarmee UCK in den Niederlanden in Haft. Sie sind allesamt politische Schwergewichte des Kosovo.
Bekanntester Insasse: Hashim Thaci, bis kurz vor seiner Verhaftung im November 2020 Staatspräsident des Kosovo. Obwohl er damals erst 31 Jahre alt war, war der unter dem Kampfnamen "Die Schlange" bekannte Mann ein wichtiger Entscheidungsträger: Als Oberkommandierender der UCK soll er während und nach dem Krieg Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübt, veranlasst und vertuscht haben, so der Vorwurf. Außerdem: Kadri Veseli, der ehemalige Chef des früheren Nachrichtendienstes, Jakup Krasniqi, der frühere Parlamentspräsident sowie Rexhep Selimi, ein früherer Abgeordneter.
Der Staatsanwalt wirft ihnen allen Mord, Folter, Verbrechen an serbischen Zivilisten und Roma vor - und ein sogenanntes gemeinschaftliches kriminelles Unternehmen zur Beseitigung von politischen Gegnern.
Noch immer Identifikation mit UCK
Die Identifikation und Solidarität mit der UCK als Symbol für den Befreiungskampf gegen Serbien ist im Land immer noch groß. Das rot-gelbe Logo der UCK ist im Stadtbild durchaus präsent - auf Fahnen in Fenstern, Aufklebern an Straßenlaternen, T-Shirts auf dem Markt. Viele Kosovaren empfinden das Sondertribunal als ungerecht. In den Heldenerzählungen sind die Kriegsverbrecher einzig auf Seiten der serbischen Regierung zu suchen.
Die Gräueltaten des serbischen Regimes wurden allerdings bereits vom Sondertribunal für das ehemalige Jugoslawien behandelt. Explizit im Verfahren gegen den ehemaligen serbischen Präsidenten Slobodan Milosevic.
Jetzt aber geht es also ausschließlich um die kosovarisch-albanische Guerilla-Armee UCK, die im Kampf gegen das serbische Regime auf Waffengewalt setzte. Und zwar auch nach Kriegsende noch, um die damals aus der UCK hervorgehende Partei PDK zu unterstützen. Bis zu 200 Morde an politischen Gegnern soll es alleine in der Zeit nach dem Krieg noch gegeben haben, um der PDK den Zugang zur politischen Macht im Land zu verschaffen. Zu dem Zeitpunkt stand das Kosovo bereits unter UN-Verwaltung.
Mehr als 10.000 Zivilisten unter den Opfern
Bislang sorgten das korrupte kosovarische Justizsystem und mangelhafter Zeugenschutz dafür, dass die meisten Fälle ungeklärt blieben. Nur 65 Schuldsprüche habe es gegeben, beklagt das Zentrum für humanitäres Recht im Kosovo.
Eine unbefriedigend niedrige Zahl, wenn man die hohe Zahl der Opfer betrachtet. Das Zentrum für humanitäres Recht hat alle Fälle dokumentiert. Mehr als 10.000 unbeteiligte Zivilisten befinden sich unter den Opfern: 1200 Serben, 8600 Albaner und Angehörige vieler Minderheiten wie die der Roma.
Zeugen werden immer noch bedroht
Ein aufwändiges Zeugenschutzprogramm wurde installiert, um Opfern die Aussagen zu erleichtern. Auch das ein Grund, weshalb das Tribunal sich in Den Haag befindet. Für Bekim Blakaj, den Direktor des Zentrums für humanitäres Recht der einzige Weg, um Zeugen zu schützen und die Verfahren vor politischer Einflussnahme zu schützen. Denn im Kosovo wurden und werden immer noch Zeugen und ihre Familien bedroht, erpresst oder körperlich angegriffen.
Im vergangenen September wurden Daten von Zeugen durch ein Leck der UCK-Nachfolgeorganisation zugespielt. Mit dem Ergebnis, dass viele jetzt nicht mehr in Den Haag aussagen wollen. Eine Erschwernis für das Gericht.
Immerhin: Auch die Archive des aufgelösten UN-Kriegsverbrecher-Tribunals für das ehemalige Jugoslawien enthalten Tausende Seiten und stundenlange Tonaufnahmen mit Aussagen und Dokumenten, die als Quellen dienen können. Für die Opfer ist das größte Interesse, dass das Gericht den Nachweis erbringt, wer für die Verbrechen an Serben und Kosovo-Albanern verantwortlich ist und welche Gräueltaten die Freischärler in Thacis Namen begangen haben.
Hat sich die UCK mit Organhandel finanziert?
Dabei gilt ein besonderes Interesse der Frage, ob die Staatsanwaltschaft Beweise vorlegen kann für den Vorwurf des Organhandels. Ein Untersuchungsbericht lieferte Anhaltspunkte für einen möglichen internationalen Handel mit lebenswichtigen Organen serbischer Gefangener für Transplantationen, um das System UCK zu finanzieren. Die angeblichen Opfer sind allesamt spurlos verschwunden. Das mutmaßlich dunkelste Kapitel der UCK, das jetzt in Den Haag aufgearbeitet wird.