Nach dem NATO-Gipfel "Ein starkes Signal an Russland"
Schweden wird NATO-Mitglied, die Ukraine soll es werden - nach Ansicht der Sicherheitsexpertin Fix ist das eine klare Botschaft an Russland, dass es sich nicht lohnt, den Krieg in die Länge zu ziehen. Und doch bleiben auch nach Vilnius Widersprüche.
tagesschau.de: Viele Ukrainer zeigen sich nach dem NATO-Gipfel enttäuscht, dass es keine konkrete Einladung zu einer Mitgliedschaft in der NATO gab. Aber waren diese Hoffnungen berechtigt? Konnte die Ukraine vor dem Gipfel überhaupt noch ernsthaft von einer konkreten Einladung ausgehen?
Liana Fix: Es ging tatsächlich nie um eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine während des Krieges, während Kampfhandlungen noch andauern. Es wurde aber durchaus ernsthaft diskutiert, welche Formulierungen die Alliierten wählen würden, um zu signalisieren, dass die Ukraine ab einem bestimmten Punkt in der Zukunft NATO-Mitglied werden kann.
Die Hoffnung der Ukraine, aber auch anderer NATO-Mitglieder wie zum Beispiel Frankreich, Großbritannien, Polen und anderen mittel- und osteuropäischen Staaten war, dass man in dem NATO-Kommuniqué eine klarere Formulierung finden würde, dass die Ukraine nach dem Ende des Krieges Mitglied werden kann und dass sie eine entsprechende Einladung erhält.
"Der ganze Kontext hat sich verändert"
tagesschau.de: Woran ist das gescheitert?
Fix: Insbesondere die USA zusammen mit Deutschland haben das skeptisch gesehen. Aus ihrer Sicht gibt es zu viel Unsicherheit über den Ausgang des Krieges, um dies bereits jetzt so zu formulieren. Die Kritiker sagen, dass es am Ende bedeutet, dass der NATO-Gipfel für die Ukraine nicht mehr geliefert hat als der NATO-Gipfel in Bukarest in 2008, bei dem der Ukraine zwar die Mitgliedschaft versprochen wurde, sie aber keinerlei Zeitplan oder andere Konditionen dafür übermittelt bekam. Übersetzt bedeutet das, dass die Mitgliedschaft 2008 auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben worden ist.
Auf der anderen Seite hat der Gipfel aber durchaus positive Ergebnisse erbracht. Es gibt jetzt einen NATO-Ukraine-Rat. Eine weitere Bedingung, um Mitglied zu werden, nämlich der sogenannte Membership Action Plan, ist für die Ukraine gestrichen worden. Insgesamt hat sich der ganze Kontext verändert. Im Gegensatz zu 2008 gibt es in der Allianz jetzt deutlich mehr Unterstützung für eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine, auch wenn es noch keine konkrete Sprache zu Bedingungen oder zum Zeitrahmen gegeben hat.
Sorge um "Anreize" für Putin
tagesschau.de: Woran haben sich die Zweifel der Bundesrepublik und der USA festgemacht?
Fix: Es gab vor allem die Befürchtung, dass die Situation auch nach Kriegsende noch unklar sein könnte - nicht nur, was die Lage in der Ukraine angeht, sondern auch, was die Position einzelner NATO-Mitglieder anbelangt. Deshalb wollte man sich jetzt noch nicht für eine sehr ungewisse Zukunft verpflichten.
Dazu kam die Überlegung, dass wenn man der Ukraine jetzt eine Mitgliedschaft nach Kriegsende anbietet, dies Wladimir Putin einen Anreiz geben könnte, weiter zu kämpfen und damit ein Anreiz für Verhandlungen wegfallen könnte. Denn Putin müsste dann davon ausgehen, dass die Ukraine NATO-Mitglied wird, sobald die Kampfhandlungen enden.
Auf der anderen Seite kann man jedoch genauso gut argumentieren, dass wenn die Ukraine keine konkretere NATO-Perspektive hat, sie immer in einer Grauzone bleiben wird und es für Putin und seine möglichen Nachfolger keinen Grund gibt, es in Zukunft nicht noch mal zu versuchen, weil die endgültige Lage der Ukraine in der europäischen Sicherheitsarchitektur nicht beantwortet ist. Beide Argumente sind durchaus valide. Am Ende ist das Kalkül, das in Moskau herrscht, für uns nicht zu 100 Prozent einsehbar.
"Putin hat kein Interesse an Verhandlungen"
tagesschau.de: Welches Risiko halten Sie für größer?
Fix: Ich halte beides für möglich, denke aber, dass das Risiko, der Ukraine keine langfristige Position in der europäischen Sicherheitsarchitektur zu geben, größer ist. Wir sehen bereits jetzt, dass Putin kein Interesse an Verhandlungen hat, egal ob die Ukraine eine NATO-Perspektive hat oder nicht. Wir sehen auch, dass Russland diesen Krieg weiterhin als einen Krieg gegen die NATO und gegen den Westen darstellt.
Die EU- und die NATO-Mitgliedschaft waren nach dem Ende des Kalten Krieges das erfolgreichste Modell in Europa. Wenn dieses Modell der Ukraine nicht angeboten wird, wenn ihr nur die EU-, nicht aber die NATO-Mitgliedschaft offeriert wird, hinterlässt das eine Instabilität in Europa, die Putin und seinem Nachfolger den Anreiz geben könnte, es in Zukunft immer wieder zu versuchen.
"Erneute Hürden"
tagesschau.de: Die NATO erklärt, sie werde, wenn es denn zu einem Beitrittsverfahren kommt, auf den Membership Action Plan verzichten. Sie hat aber trotzdem weitere Bedingungen wie rechtsstaatliche Reformen und anderes mehr verlangt. Kann das den Beitritt der Ukraine auch nach einem Ende des Krieges verzögern?
Fix: Das ist etwas widersprüchlich, weil es die Hoffnung der Ukraine und derjenigen, die den Schritt befürwortet haben, war, dass man diesen Prozess nicht durchmachen muss, wenn man den NATO Membership Action Plan fallen lässt. Wenn im Abschluss-Kommuniqué noch immer explizit Bedingungen erwähnt werden, stellt das eine erneute Hürde dar. Ebenso ist die Formulierung im Kommuniqué, dass alle NATO-Staaten zustimmen müssen, zirkulär, weil das selbstverständlich ist und mit dem Wegfall des Membership Action Plans nicht mehr zwingend hätte erwähnt werden müssen. Auch das hat die ukrainische Seite enttäuscht.
Der Wegfall des Aktionsplans ist auf der einen Seite ein gutes Signal, weil man das im Fall von Finnland und Schweden auch getan hat und die Ukraine ihnen damit gleichgesetzt wird. Auf der anderen Seite ist damit eine hypothetische Bedingung fallengelassen worden für ein hypothetisches Ende, zu dem man sich noch nicht klar bekannt hat. Solange es kein klares Bekenntnis gibt, wann die Ukraine Mitglied wird, ist es einfach, eine hypothetische Bedingung dafür fallenzulassen. Deswegen wäre es noch aussagekräftiger gewesen, wenn es klarere Aussagen zum Zeitrahmen, aber auch zu den Bedingungen gegeben hätte.
"Es lohnt sich nicht, zu warten"
tagesschau.de: Welche Botschaft geht damit vom Gipfel in Vilnius aus?
Fix: Wir müssen hier auch die G7-Verpflichtungen einbeziehen: bilaterale, langfristige Verpflichtungen zur Ausbildung der ukrainischen Armee, zu Waffenlieferungen, die jedes einzelne G7-Land mit der Ukraine aushandeln wird. Das ist die Substanz des Ganzen und soll die Zeit bis zu einer NATO-Mitgliedschaft der Ukraine überbrücken.
Wenn wir das zusammennehmen mit Schwedens Mitgliedschaft, ist es ein starkes Signal an Russland, dass es sich nicht lohnt zu warten, bis die Allianz müde wird, dass es sich nicht lohnt, bis zu den US-Präsidentschaftswahlen 2024 zu warten, sondern dass die Unterstützer der Ukraine da sind und mit ihrer Unterstützung da bleiben werden.
Das kleine Minus, dass man sich nicht auf eine zumindest etwas konkretere Sprache zur NATO-Perspektive der Ukraine einigen konnte, schwächt dieses Signal nicht substanziell. Es ist immer noch ein klares Signal der Stärke gegenüber Russland und der Warnung, dass die Allianz in ihrer Unterstützung für die Ukraine nicht nachlassen wird.
Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de