Odessa Späte Badesaison gegen den wirtschaftlichen Einbruch
Der Sommer neigt sich dem Ende zu, auch in der Ukraine. Doch in Odessa am Schwarzen Meer ist die Badesaison gerade erst geöffnet worden: für ein bisschen Lebensfreude im Krieg und gegen den wirtschaftlichen Einbruch.
Neun Uhr früh am Meer bei Odessa: Die Sonne brennt, das Thermometer nähert sich 30 Grad Celsius. Es ist Mitte August und doch ist Aliek heute zum ersten Mal in diesem Jahr am Strand: Die schlaflosen Nächte schlagen dem sportlichen Rentner aufs Gemüt, vor allem in letzter Zeit. Es sind die russischen Angriffe auf den Hafen von Odessa, die Aliek und vielen anderen Odessiten den Schlaf rauben, selbst wenn sie außerhalb des Zentrums der Stadt am Schwarzen Meer leben.
So wie Tetjana, die gerade eine erste Runde im Wasser gedreht hat. "Ich kann die Angriffe von meiner Wohnung aus nachts beobachten", erzählt die schlanke, gebräunte Mitt-Vierzigerin. "Ich blicke direkt auf den Hafen.
Aber nicht der russische Beschuss ist der Grund, warum die Behörden das Baden im Schwarzen Meer erst jetzt, fast am Ende der Saison, gestatten. Die meisten Strände der Stadt liegen abseits der Angriffszone. Und doch ist die monatelange Verzögerung ebenfalls dem russischen Angreifer geschuldet.
Milliarden Kubikmeter verunreinigtes Wasser
Marat Korolyow leitet den Stadtbezirk mit den meisten Stränden von Odessa. "Nach der Zerstörung des Kachowka-Staudamms am Unterlauf des Dnipro am 6. Juni drängten Milliarden Kubikmeter verunreinigten Wassers in das Schwarze Meer. Es wäre verantwortungslos gewesen, das Baden zu gestatten", sagt er.
Während die Odessiten sich in den Schwimmbädern und Pools der Stadt drängelten, gingen die Mitarbeiter der Seuchenschutzbehörde täglich an die Strände - aber nicht zum Baden, erzählt Abteilungsleiter Oleksandr Wolkow: "Nach dem Dammbruch haben wir sofort angefangen, Wasser und Boden entlang der Küste auf Schadstoffe zu testen - auf Viren, Bakterien, Parasiten, auf chemische Stoffen, Schwermetallsalze und radioaktive Substanzen."
Die Flut hatte auf dem Weg ins Schwarze Meer Senkgruben und Abwasserkanäle aufgerissen, sie führte menschliche Leichen und Tierkadaver mit. Innerhalb weniger Tage stellten die Wissenschaftler eine so starke Verunreinigung vor allem durch Fäkalien fest, dass der Verwaltung nichts übrig blieb, als die Strände von Odessa zu sperren. Inzwischen entspricht die Wasserqualität wieder den Hygienevorschriften.
Schutzmaßnahmen gegen Treibminen
Aber da wäre noch ein anderes Problem: die Treibminen im Schwarzen Meer. "Molen, Boyen, Netze - diese drei Elemente sollen die Minen von den Stränden fernhalten", sagt Korolyow über die Schutzmaßnahmen. Die Netze werden in rund 30 Meter Abstand vom Strand im Meer aufgespannt. "Es ist ein bisschen gefährlich wegen der Minen. Aber jetzt mit dem Netz ist ja alles sicher", ist Tetjana überzeugt.
Der Strand ist einer von sechs Stränden entlang der Küste von Odessa, die alle Voraussetzungen für sicheres Baden erfüllen. Der Bademeister berichtet, dass jetzt wieder viel mehr Leute zum Baden kommen - nicht nur Einheimische, sondern auch Touristen. "Fünf Tage verbringen wir hier am Meer, um ein bisschen Abstand vom Krieg zu gewinnen", erzählt Olena.
Schilder mit der Aufschrift "Gefährliche Minen!" warnen am Strand der ukrainischen Schwarzmeerstadt Odessa.
Tourismus ist eingebrochen
Die Großstadt im Süden der Ukraine ist immer wieder schweren russischen Raketenangriffen ausgesetzt. Odessa, bis zur russischen Großinvasion jedes Jahr Ziel von Millionen Touristen aus dem In- und Ausland, will mit der späten Eröffnung der Badesaison wirtschaftlichen Einbruch mildern.
"Strände, Diskotheken, Cafés, Restaurants - alle haben vom Tourismus gelebt. Die Urlauber haben hier früher viel Geld gelassen, davon haben die Unternehmen profitiert, das hat Arbeitsplätze gesichert und das hat Geld in den städtischen Haushalt gespült", sagt Korolyow. Jetzt sind mitten im Sommer Hotelzimmer frei, im Restaurant ist jederzeit ein Tisch zu haben und auf Badeanzüge gibt es 70 Prozent Rabatt.
Seit Beginn der russischen Invasion ist der Tourismus in der Schwarzmeerstadt eingebrochen. Statt fünf Millionen Urlaubern verzeichnet Odessa jetzt maximal 500.000 im Jahr. Die Folgen der Wirtschaftskrise, in die der russische Angriffskrieg die Ukraine gerissen hat, beschäftigen auch Aliek: "Viele Menschen haben keine Arbeit mehr. Und auch die, die Arbeit haben, leiden. Rentner wie ich sind abgesichert. Aber wer jetzt arbeitslos wird, für den ist alles noch viel schwieriger als früher." Auch deshalb war die Enttäuschung in Odessa groß, als die Strände im Frühjahr abgesperrt bleiben mussten.
Das Recht auf Lebensfreude
Wenigsten in den letzten Sommerwochen wollen die Menschen das Meer nun noch genießen - und baden deshalb auch an den Dutzenden Stränden, wo weder Molen noch Netze Treibminen abhalten. "Natürlich gibt es Krieg und Sorgen, aber man lebt heute. Was morgen ist, was gestern war, ist doch egal. Man muss einfach den Moment genießen", sagt die Strandgängerin Irene.
Wildes Baden ist zwar eine Ordnungswidrigkeit, aber die Stadtverwaltung kommt mit den Kontrollen nicht hinterher, räumt Korolyow ein, und "letztlich ist jeder Mensch für sich selbst verantwortlich. Wir tun das unsere und informieren über die Gefahren und die Maßnahmen zur Gefahrenabwehr. Aber es bleibt immer der menschliche Faktor".
Der menschliche Faktor, das ist auch die Liebe zur Heimatstadt, jedenfalls für Sergej. Der 29-Jährige ist als Zweiter Maat einer Tankerflotte schon überall auf der Welt gewesen: "Das hier ist mein erster Sommer seit fünf Jahren in Odessa. Ich war in Amerika, Kanada, Europa, Afrika und China. Ich habe an den schönsten Stränden der Welt gebadet. Und die ganze Zeit hatte ich diesen einen Traum: Nach Hause kommen, an den Strand und endlich wieder im Schwarzen Meer schwimmen." Das Recht auf Lebensfreude lassen die Odessiten sich auch vom Krieg nicht nehmen.
In einer früheren Fassung hieß es, dass sich Odessa im Osten der Ukraine befindet. Richtig ist, dass die Stadt im Süden des Landes liegt.
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