Karl Nehammer und Leonore Gewessler
analyse

Regierungskrise in Österreich Durchwurschteln bis zur Wahl

Stand: 18.06.2024 14:38 Uhr

Trotz einer abtrünnigen Umweltministerin will Österreichs Kanzler an der Koalition mit den Grünen festhalten. Der Wahlkampf ist dennoch eingeläutet - und alle Beteiligten versuchen, die Regierungskrise für ihre eigenen Zwecke zu nutzen.

Die Stellungnahme von Österreichs Bundeskanzler Karl Nehammer klingt zunächst wie ein einziger Widerspruch: "Ich weiß, dass die Erwartungshaltung jetzt ist, mit so einem krassen Fehlverhalten einer Ministerin müsste die Koalition beendet werden. Ich werde das nicht tun."

Nehammer spricht von einem Vertrauens- und sogar Rechtsbruch durch die Umweltministerin. Die Grünen würden ihre Ideologie über die Verfassung des Landes stellen, lautet Nehammers Vorwurf. "Wenn sie mich nach meinen Emotionen fragen, würde ich sagen: Ja, das alles hat so keinen Sinn."

Gewessler muss mit Konsequenzen rechnen

Die Regierungskoalition aus der konservativen ÖVP und den Grünen aber soll bis zur Parlamentswahl am 29. September bestehen bleiben. Die grüne Umweltministerin Leonore Gewessler hatte am Montag in Brüssel gegen den Willen von Kanzler Nehammer für das EU-Renaturierungsgesetz gestimmt und es so überhaupt erst ermöglicht. Es soll dafür sorgen, dass sich zerstörte Natur so weit wie möglich erholen kann und verpflichtet die EU-Länder, einen Teil der geschädigten Flächen und Meeresgebiete wiederherzustellen.

Der Konflikt wird nun juristisch ausgefochten. Die in dem Gesetz vorgesehene Übergangsphase von zwei Jahren will die Regierung unter ÖVP-Kanzler Nehammer für eine Nichtigkeitsklage vor dem Europäischen Gerichtshof nutzen. Nehammer drohte Gewessler zudem mit einer Anzeige wegen Amtsmissbrauchs.

Bundeskanzler verweist auf Verantwortung

Dass Nehammer trotz allem auch mit Gewessler weiterregieren will, begründet er mit der Verantwortung, die ihm sein Amt auferlege. Er wolle das Land nicht ins Chaos stürzen und den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern Milliardenkosten ersparen. Der Bundeskanzler spielt auf das an, was man in Österreich das "freie Spiel der Kräfte" nennt: Ein Parlament ohne Regierungsmehrheit, in dem sich die Fraktionen spontan für einzelne Beschlüsse zusammentun.

Das hat es vor Wahlen schon einige Male gegeben, mit milliardenschweren Folgen. Die Parteien nutzten solche Phasen in früheren Zeiten nämlich, um ihrer jeweiligen Klientel Wahlgeschenke zu bescheren, sie bildeten hierfür jeweils Spontanbündnisse. Experten schätzen, dass allein das "freie Spiel der Kräfte" 2008 die österreichischen Steuerzahlerinnen und -zahler rund 30 Milliarden Euro gekostet haben dürfte. Damals beschloss man in einer Marathonsitzung zahlreiche Gesetzesänderungen, darunter eine frühzeitige Erhöhung der Pensionen, wie die gesetzliche Rente in Österreich genannt wird.

Rund 50 Gesetzesvorhaben noch

Dann also lieber durchwurschteln. Nur etwas mehr als drei Monate sind es noch bis zur nächsten Parlamentswahl in Österreich. Einen großen Teil dieser Zeit ist das Parlament in Sommerpause. Drei reguläre Parlamentssitzungen stehen noch auf dem Plan, rund 50 Gesetzesvorhaben will die Regierung noch durchbringen. Was davon gelingt, ist offen.

Mindestens ein Mal werden die konservative ÖVP von Kanzler Nehammer und die grünen Koalitionspartner aber voraussichtlich trotz all der Zwietracht zusammen abstimmen müssen. Die in Teilen rechtsextreme FPÖ hat ein Misstrauensvotum gegen Gewessler angekündigt. Wenn es dazu kommt, muss die ÖVP mit den Grünen stimmen, wenn sie nicht doppelt wortbrüchig werden will.

Sie steht jetzt nicht nur im Wort, die Koalition nicht platzen zu lassen. Eines von Nehammers wichtigsten Wahlversprechen ist es, mit der FPÖ unter ihrem aktuellen Parteichef Herbert Kickl keine Regierung zu bilden. Zusammen mit der Kickl-FPÖ eine Ministerin abzusägen, würde das unglaubwürdig erscheinen lassen.

ÖVP als Gegenmodell zur FPÖ

Die FPÖ hatte bei der Europawahl mit 25,4 Prozent als stärkste Kraft abgeschnitten. Die ÖVP landete mit 24,5 Prozent knapp dahinter. Um bis zur Nationalratswahl den Abstand noch aufzuholen, dürfte die Partei alles versuchen, sich jetzt als staatstragende Kraft zu präsentieren und keine Angriffsfläche zu bieten.

Nehammer nannte Kickl in der Vergangenheit immer wieder "gefährlich". Die ÖVP soll also das zuverlässige Gegenmodell sein. Gewessler verbal abzustrafen soll gleichzeitig die Nachricht senden: Mit den Grünen geht es nach der Wahl nicht weiter. Eine Zweier-Koalition dürfte nach der Wahl laut aktuellen Umfragen schon rechnerisch nicht mehr möglich sein.

Und die Grünen? Die haben hoch gepokert - und gewonnen, zumindest in der Sache. Der grüne Vizekanzler Werner Kogler sprach am Abend in Wien von einem "Sieg für die Natur". Den Drohungen der ÖVP sehe man gelassen entgegen. Man habe sich vor der Entscheidung in Luxemburg juristisch abgesichert. Und die Kernwählerschaft dürfte auch zufrieden sein.

Die abtrünnige Umweltministerin selbst verteidigte ihr Vorgehen im Anschluss und erklärte, "wenn das gesunde und glückliche Leben künftiger Generationen auf dem Spiel steht, braucht es mutige Entscheidungen".

Beide Parteien haben die Krise also genutzt, sich vor dem heimischen Publikum zu positionieren. Der Wahlkampf dürfte damit eingeläutet sein.

Oliver Soos, ARD Wien, tagesschau, 18.06.2024 11:19 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk in der Sendung "Informationen am Abend" am 17. Juni 2024 um 18:16 Uhr.