Regierungskrise in London Minister erhöhen Druck auf Johnson
Der Druck auf den britischen Premier Johnson steigt: Führende Minister wollen ihn offenbar kurzfristig zum Rücktritt auffordern, weit über 30 Amtsträger sind binnen Stunden zurückgetreten. Auch ein neues Misstrauensvotum könnte ihm drohen.
Der britische Premier Boris Johnson verliert immer mehr an Rückhalt in der eigenen Regierung. Wie Medien berichteten, will eine Delegation aus mehreren Kabinettsmitgliedern dem konservativen Premierminister noch am Abend im Regierungssitz 10 Downing Street den Rücktritt nahelegen.
Wichtige Minister offenbar gegen Johnson
Darunter soll unter anderem der erst am Dienstagabend auf seinen Posten berufene Finanzminister Nadhim Zahawi sein. Auch Wirtschaftsminister Kwasi Kwarteng setze sich inzwischen für einen Rücktritt des Premiers ein, berichtete der Sky-News-Reporter Sam Coates. Berichten zufolge soll sich auch Bau- und Wohnungsminister Michael Gove von Johnson abgewendet und ihm in einem privaten Gespräch den Rücktritt nahegelegt haben.
Mehrere Staatssekretäre forderten Johnson in einem Brief bereits zum Amtsverzicht auf. "Ohne Hintergedanken müssen wir Sie bitten, zum Wohle der Partei und des Landes Platz zu machen", schrieben sie.
Am Dienstag waren zunächst Gesundheitsminister Sajid Javid und Finanzminister Rishi Sunak zurückgetreten - aus Protest gegen Johnson. Dieser beschädige den Ruf der Konservativen.
Javid hatte seine Kollegen am Nachmittag im britischen Unterhaus aufgerufen, ebenfalls zurückzutreten. Er rief indirekt dazu auf, Johnson zu stürzen. "Nichts zu tun, ist eine aktive Entscheidung", so Javid. "Diejenigen von uns, die in einer Position dazu sind, haben die Verantwortung, etwas zu ändern. Die BBC beziffert die Anzahl der Rücktritte seit Dienstag mit nunmehr 38.
Forderungen nach einem Rücktritt Johnsons kommen nicht nur aus der Opposition, sondern längst auch aus seiner eigenen Partei. Bei einer Befragung in einem Parlamentsausschuss am Nachmittag lehnte Johnson einen Rücktritt aber vehement ab. "Ich werde nicht zurücktreten", sagte er.
An seine Kritiker gerichtet sagte er, sie unterschätzten die Ambitionen von ihm und seinen Mitstreitern. Die Regierung habe einen Plan und wolle weitermachen.
Neues Misstrauensvotum könnte kommen
Unter anderem wegen des Skandals um Partys am Regierungssitz während des Corona-Lockdowns war Anfang Juni ein parteiinternes Misstrauensvotum gegen Johnson auf den Weg gebracht worden. Der Premier überstand die Abstimmung nur knapp.
Den bisherigen Regeln der Tory-Partei zufolge darf für die Dauer von zwölf Monaten nach einer solchen Abstimmung kein neuer Versuch eines Misstrauensvotums unternommen werden. Allerdings hat das einflussreiche 1922-Komitee die Kompetenz, diese Regel zu ändern. Von Beobachtern war dieser Schritt bereits für den Nachmittag erwartet worden.
Nach Berichten mehrerer Medien plant das Komitee allerdings, am kommenden Montag zunächst einen neuen Vorstand zu wählen. Dann erst soll entschieden werden, ob die Regel geändert wird. Sollte Johnson mit einem neuen Misstrauensvotum konfrontiert werden, dann offenbar frühestens in der kommenden Woche.
Eine Entschuldigung, die wohl nicht reichte
Auslöser des Politbebens war, dass Johnson den konservativen Abgeordneten Chris Pincher in ein wichtiges Fraktionsamt hievte - obwohl ihm Vorwürfe der sexuellen Belästigung bekannt waren. Die Ministerrücktritte erfolgten wenige Minuten, nachdem Johnson sich am Dienstagabend dafür entschuldigt hatte, Pincher zum stellvertretenden Parlamentarischen Geschäftsführer gemacht zu haben.
Pincher war Ende vergangener Woche zurückgetreten. Dabei wurde bekannt, dass es bereits in der Vergangenheit Vorwürfe gegen ihn gegeben hatte.
Johnson Lügen vorgeworfen
Ein Regierungssprecher hatte zunächst dementiert, dass Johnson von den alten Vorwürfen gegen Pincher gewusst habe. Diese Verteidigungslinie brach am Dienstag zusammen, nachdem ein ranghoher früherer Beamter erklärte, dass Johnson bereits 2019 über einen entsprechenden Vorfall informiert worden sei. Oppositionsabgeordnete und einige Tories bezichtigten den Premier daraufhin der Lüge.
Johnson überstand in den vergangenen Jahren eine Reihe von Skandalen und Affären. Mitte Mai war ein Abgeordneter unter Vergewaltigungsverdacht vorübergehend festgenommen worden. Ebenfalls im Mai wurde ein früherer Tory-Abgeordneter wegen sexuellen Missbrauchs eines Minderjährigen zu anderthalb Jahren Gefängnis verurteilt.