Soldaten und ein gepanzertes Fahrzeug stehen in Rostow am Don. (Archivbild: 24.06.2023)
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Aufstand der Wagner-Kämpfer "Die Lage ist absolut brenzlig"

Stand: 24.06.2023 13:24 Uhr

Der Vormarsch der Wagner-Kämpfer ist aus Sicht der ARD-Korrespondentinnen Ina Ruck und Christina Nagel eine ernstzunehmende Eskalation. Aber keine ganz unerwartete. Doch das Risiko habe der Kreml unterschätzt.

Immer wieder ist der Chef der Wagner-Gruppe, Jewgeni Prigoschin, auf Konfrontationskurs zur militärischen Führungsriege gegangen, allen voran zum russischen Verteidigungsminister Sergej Schoigu. Doch bislang blieb es bei provokativen, teils beleidigenden Worten - der Vormarsch der Wagner-Kämpfer auf russisches Staatsgebiet sei "eine ganz neue Situation", sagt Ina Ruck, ARD-Korrespondentin in Moskau.

"Sieht aus, als bekämpfe Russlands Armee im eigenen Land einen inneren Feind", Ina Ruck, ARD Moskau

tagesschau24, 24.06.2023 12:00 Uhr

"Die Lage ist absolut brenzlig", betonte Ruck. Der russische Präsident Wladimir Putin habe in seiner Rede quasi bestätigt, dass die Arbeit der Behörden und militärischen Einrichtungen in der Stadt Rostow im Süden des Landes "blockiert" sei. In einem auf Telegram veröffentlichten Video hatte Prigoschin die Übernahme sämtlicher militärischen Institutionen in der Stadt durch seine Truppen gemeldet. Nun kursieren laut Ruck auch Berichte, dass Wagner-Kämpfer bis in die Stadt Woronesch vorgerückt sein sollen.

"Das würde bedeuten, dass sie wirklich Richtung Moskau gehen", sagte Ruck weiter. Woronesch liege etwa auf halber Strecke zwischen Rostow und der russischen Hauptstadt. "Die Sache ist also tatsächlich absolut ernst zu nehmen", schätzt Ruck.

Karte Russland mit den Orten Moskau, Rostow und Woronesch

Russische Regierung vor Zwiespalt

Aus Sicht von Ruck könne der Vormarsch der Wagner-Gruppe durchaus auch Folgen für den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine haben. Eine Einschätzung, die auch Christina Nagel teilt. Sie ist ebenfalls als Korrespondentin im ARD-Studio Moskau tätig. Immerhin habe Prigoschin eine Privatarmee aufgebaut, "die wirklich groß und schlagkräftig" sei und im Krieg gegen die Ukraine teils eine entscheidende Rolle gespielt habe - etwa im Kampf um die Stadt Bachmut.

Zudem stehe die russische Regierung nun vor einem Zwiespalt. Sollte sie Truppen aus der Ukraine abziehen, um gegen die Wagner-Gruppe vorzugehen, würde sie damit "eine Flanke in der Ukraine aufmachen" und dem ukrainischen Militär eventuell ermöglichen, weiter vorzurücken. Gleichzeitig habe Russland nun ein akutes "innenpolitisches und innermilitärisches Problem zu lösen", so Nagel. Natürlich habe der Kreml andere Sicherheitskräfte eingebunden, etwa den Geheimdienst FSB. Das könnte aus Sicht Nagels durchaus zum Problem für Prigoschin werden.

Andererseits besäßen die Kämpfer der Wagner-Gruppe "ein großes Erfahrungspotenzial, was Schlachten angeht", so Nagel weiter. Hinzu kämen ein großes militärtechnisches Arsenal und möglicherweise auch Sympathisanten, die sich auf die Seite der Söldner stellen könnten, weil sie bereits mit ihnen gekämpft hätten.

Auch für ARD-Korrespondentin Ruck steht die Frage im Raum, wie Russland mit Wagner-Kämpfern umgehen wird, die sich an dem Aufstand beteiligt haben. Die Wagner-Gruppe habe nicht erst im Krieg gegen die Ukraine "eine richtig wichtige Rolle gespielt", sondern auch in Syrien oder Afrika. Die Truppe habe "die schmutzige Arbeit erledigt", die die russische Armee nicht habe machen wollen. Und das, obwohl Söldnertruppen in Russland offiziell nicht legal sind.

Christina Nagel, ARD Moskau, tagesschau, 24.06.2023 07:45 Uhr

"Kreml hat Situation unterschätzt"

Dass die Lage aber tatsächlich so eskaliert, damit habe der Kreml nicht gerechnet, analysiert Nagel. Er habe die Situation unterschätzt. Bisher sei der Machtkampf zwischen Prigoschin und Schoigu eine "Verbalschlacht" gewesen, welche Putin zwar austariert, aber nie vollständig unterbunden habe. Dadurch habe Prigoschin Zeit gehabt, sich "Parallelstrukturen" aufzubauen, die sich nun gegen die "regulären Strukturen" des Kreml und dessen Militärführung richten könnten.

Auch Ina Ruck spricht davon, dass Prigoschin als Vertrauter Putins "immer eine Art Freikarte" gehabt habe. "Beschimpfen, beleidigen, kritisieren - das hat Putin immer zugelassen", sagt Ruck. Aber nun habe Prigoschin den Bogen offenbar überspannt und "Putins Unterstützung endgültig verloren".

"Prigoschin kämpft um persönliches Überleben"

Stefan Meister von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik geht davon aus, dass Prigoschin die Unterstützung Putins hinter den Kulissen bereits seit mehreren Wochen verloren haben könnte. Nun kämpfe der Wagner-Chef "letztlich um sein eigenes persönliches Überleben". Denn eines steht in den Augen von Meister fest: "Ohne Putin hätte es keinen Prigoschin gegeben." Und der Söldnerchef wisse, dass die russischen Sicherheitskräfte ihn ohne den Schutz des Präsidenten "wohl töten werden".

Für Putin sei es "höchste Zeit" gewesen, den Wagner-Chef fallen zu lassen, betont Meister. Unter Umständen könnte er bereits zu spät reagiert haben. Denn immerhin habe Russland einen Teil seines Gewaltmonopols verloren. Der russische Präsident habe erst reagiert, "als der innere Feind quasi schon vor dem Tor steht". Und für Meister spiegelt die Rede Putins teils auch einen gewissen "Realitätsverlust" des Staatschefs wider. Er beschuldige erneut den Westen, gehe auf historische Sachverhalte ein - aber nicht auf die aktuellen Probleme. Doch "Putin muss jetzt handeln", betont der Experte - denn sonst könnte es "gefährlich werden für das System Putin".

"Es kann tatsächlich für das System Putin gefährlich werden", Stefan Meister, Deutsche Gesellschaft für auswärtige Politik

tagesschau24, 24.06.2023 12:00 Uhr

Kritik, "für die andere im Straflager gelandet wären"

Dabei sei die zunehmend provokative Haltung Prigoschins schon länger deutlich geworden. Immer wieder habe der Söldnerchef "massive Kritik" an der Militärführung geübt und ihr Fehler vorgeworfen, sagt Nagel. Prigoschin habe "viele grundlegende Dinge" infrage gestellt - Äußerungen, für die andere wohl "längst für Jahrzehnte im Straflager gelandet wären".

Der Wagner-Chef habe Russlands offizielle Ziele im Krieg gegen die Ukraine hinterfragt: die "Entnazifizierung", die Entmilitarisierung der Ukraine. Prigoschin habe behauptet, das sei völlig nach hinten losgegangen, sagt Nagel, denn nun besitze die Ukraine "eine der stärksten Armeen der Welt, eben weil Russland Krieg gegen sie führen würde".

Christina Nagel, ARD Moskau, tagesschau, 24.06.2023 07:57 Uhr

Russlands Kriegsgründe - laut Prigoschin ein "Lügengerüst"

Zuletzt habe Prigoschin die offiziellen Gründe für den russischen Angriffskrieg sogar als "Lügengerüst" bezeichnet, so Nagel weiter. Er habe behauptet, der Krieg sei nicht von Präsident Putin angezettelt worden, sondern von Verteidigungsminister Schoigu, um "sich einen weiteren Stern anheften" zu können, und von russischen Oligarchen, "die sich an diesem Krieg bereichern" wollten.

Nun unterstellt er Schoigu und dem russischen Generalstabschef, für einen Raketenangriff auf die Wagner-Kämpfer verantwortlich zu sein, bei dem viele Mitglieder von Prigoschins Truppe getötet worden seien. Das habe den Ausschlag für die Eskalation gegeben, die sich laut Prigoschin aber nicht gegen den gesamten Kreml richte, auch nicht gegen Präsident Putin. Er wolle an der Militärführung "Vergeltung" für den Tod seiner Kämpfer üben.

Christina Nagel, ARD Moskau, tagesschau, 24.06.2023 07:43 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 24. Juni 2023 um 12:00 Uhr.