Abstimmungshelfer sortieren die Abstimmungszettel der eidgenössischen, der städtischen und der kantonalen Volksabstimmungen.

Unterschriften für Volksabstimmungen Käufliche Demokratie in der Schweiz?

Stand: 11.09.2024 14:53 Uhr

Um in der Schweiz etwas zur Volksabstimmung zu bringen, müssen 100.000 Unterschriften gesammelt werden. Dass dabei Firmen unterstützen, ist nicht ungewöhnlich. Doch nun sorgt mutmaßlicher Betrug für Erschütterung.

Der Skandal erschüttert das Land, das sonst so stolz ist auf seine direkte Demokratie. Anfang September brachte eine Recherche der Schweizer Tamedia-Zeitungen ans Licht: Beim Sammeln von Unterschriften für Volksabstimmungen wurde wohl massiv gefälscht - und zwar von kommerziellen Unternehmen, die im Auftrag der sogenannten Initiativ-Komitees arbeiten.

Bevor in der Schweiz ein politisches Projekt zur Abstimmung kommt, müssen erst 100.000 Unterschriften zusammenkommen, von stimmberechtigten Bürgerinnen und Bürgern, handschriftlich, auf Papier.

"Unterschriftensammlungsarbeit ist extrem harte Demokratiearbeit", sagt Noémie Roten. Die 35-Jährige ist Geschäftsführerin der "Service Citoyen"-Initiative: Per Volksabstimmung wollen sie und ihr Team den Militärdienst für Männer durch einen Gemeinschaftsdienst für alle ersetzen. 

Bögen mit bis zu 70 Prozent ungültigen Unterschriften

"Am Anfang haben wir auch ein bisschen naiv gestartet, als kleines Initiativ-Komitee. Wir dachten, mit unserem Herzblut und freiwilligem Engagement können wir diese Initiative zustande bringen", erinnert sich Roten. "Und nach sechs Monaten Sammlung mussten wir einfach zugeben, wir brauchen Hilfe!"

Und die glaubte sie gefunden zu haben bei einem von rund einem Dutzend Anbietern in der Schweiz - der Firma Incop aus Lausanne, die sogar versprach, auch die nötige Beglaubigung der Unterschriften bei den Gemeinden zu übernehmen. "Also haben wir uns auf vier Franken 50 geeinigt pro valide und gültig erklärte Unterschrift", erzählt Roten.

Genau das aber lieferte die Firma nicht, sondern stapelweise Bögen mit Unterschriften, von denen sich bis zu 70 Prozent als ungültig erwiesen. Weil die Adressen der angeblichen Unterzeichner nicht existierten, die Leute keine Schweizer Staatsbürgerschaft hatten, minderjährig, umgezogen oder gestorben waren. Im Juni 2023 wurde laut Roten dann eine Strafanzeige bei der Bundesanwaltschaft eingereicht.

Rund ein Dutzend Volksinitiativen stehen unter Verdacht

Und wie jetzt bekannt wurde, ermittelte diese bereits in mehreren vergleichbaren Fällen. Rund ein Dutzend Volksinitiativen stehen unter Verdacht. So zum Beispiel die sogenannte "Blackout-Initiative", die die Rückkehr der Schweiz zur Atomenergie fordert und sich ebenfalls von der Lausanner Firma Unterschriften beschaffen ließ.

Auffällig viele Unterschriften aus der Westschweiz gab es auch für die "Initiative für ein Importverbot von Stopfleber". Verdächtig auch deshalb, weil "foie gras" - Stopfleber - in den französischsprachigen Landesteilen ähnlich wie in Frankreich als Delikatesse beliebt ist.

Einige Unterschriftensammler sollen sogar ohne Auftrag aktiv geworden sein und Inititiativ-Komitees zum Kauf gedrängt haben. Die Grünen im Schweizer Parlament fordern nun - übrigens nicht zum ersten Mal - ein generelles Verbot der kommerziellen Unterschriftenbeschaffer.

"Die direkte Demokratie, unser Stolz, hat einen Defekt"

"Wir haben schon in der Vergangenheit festgestellt, dass es Probleme gibt. Dass die Leute mit falschen Aussagen zur Unterschrift gedrängt werden. Und diese Häufung von Fälschungen kommt nun dazu. Ich finde nach wie vor: Es ist dringender denn je, dass wir diese Praxis verbieten", sagt die Grünen-Politikerin Greta Gysin, Präsidentin der staatspolitischen Kommission im Nationalrat, wo ihr Vorschlag allerdings keine Mehrheit fand. Man wolle - so der Mehrheitsbeschluss der Staatspolitischen Kommission - erst das Ergebnis der Ermittlungen abwarten.

Für viele in der Schweiz ist das zu wenig. "Die direkte Demokratie, unser Stolz, hat einen Defekt", schrieb der Tagesanzeiger. Und auch Grünen-Politikerin Gysin will nicht lockerlassen: "Wir müssen sicherstellen, dass das in Zukunft nicht mehr passiert." Denn auf dem Spiel stehe letztlich das gesamte politische System der Schweiz, sagt sie. "Wenn das Vertrauen weg ist, dann können wir dieses System, das auf so vielen informellen Regeln und Traditionen beruht, nicht mehr aufrechterhalten."

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 11. September 2024 um 09:17 Uhr.