Selenskyj-Vertrauter "NATO-Mitgliedschaft ist beste Sicherheitsgarantie"
Der ukrainische Präsident Selenskyj wirbt inzwischen oft persönlich für die Interessen seines Landes - nicht mehr nur per Video. Über den diplomatischen Kurs hat die ARD mit Vizepräsidialamtschef Schowkwa gesprochen.
Russland greift die Ukraine so massiv an wie noch nie seit Beginn des Krieges. Im Mai gab es in Kiew und anderen ukrainischen Städten kaum eine Nacht ohne Luftalarm und anschließende Explosionen. Dass viele der Raketen und Drohnen abgefangen werden, liegt maßgeblich an der westlichen Unterstützung mit modernen Flugabwehrsystemen wie "Patriot" oder IRIS-T.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj weiß, dass sein Land auf weitere Unterstützung angewiesen ist. "Ich habe dem deutschen Bundeskanzler für die bereits zur Verfügung gestellten Flugabwehrsysteme gedankt - für die durch Deutschland geretteten Leben unseres Volkes", so Selenskyj in einer Videobotschaft am Dienstag. Sein Außenminister Dmytro Kuleba wirbt für eine Ausweitung der Produktion von Flugabwehrsystemen und entsprechender Munition.
Werben statt fordern. Vertraulicher Dialog statt öffentlichkeitswirksamer Videoansprache. Die ukrainische Regierung hat ihren Stil verändert. Vor der erwarteten militärischen Offensive hat Präsident Selenskyj eine diplomatische Offensive gestartet.
Ob beim Treffen mit Bundeskanzler Olaf Scholz in Berlin, mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron in Paris oder beim bilateralen Gespräch mit US-Präsident Joe Biden am Rande des G7-Gipfels in Hiroshima: Ihor Schowkwa ist immer an Selenskyjs Seite. Seit 2019 ist Schowkwa stellvertretender Leiter des ukrainischen Präsidialamts und für die außenpolitische Strategie des Präsidenten verantwortlich.
"Wir sind uns darüber im Klaren, dass die Ukraine erst dann Vollmitglied der NATO werden wird, wenn der Krieg vorbei ist", sagt der ukrainische Vizepräsidialamtschef Schowkwa. Einen Weg wolle er aber bereits jetzt ausloten.
Im Fokus: die Kampfjet-Koalition
Die Positionen der Ukraine hätten sich nicht verändert, sagt Schowkwa bei einem Interview mit der ARD im Präsidialamt, aber: "Man kann die Frage der Waffenlieferungen bei einem persönlichen Treffen viel ehrlicher und substanzieller erörtern als per Telefon oder Video." Bei Selenskyjs Zusammenkunft mit den Staats- und Regierungschefs wurde über neue Waffenpakete verhandelt.
"Hochpräzise und hochwertige westliche Waffen, Artillerie, entsprechende Munition, Panzer, gepanzerte Fahrzeuge, Flugzeuge - diese Waffen sollten dazu führen, dass die Ukraine ihre im vergangenen Jahr begonnene Gegenoffensive fortsetzt. Im Laufe des letzten Jahres wurden mehr als 50 Prozent der von Russland nach Beginn der offenen Aggressionen eroberten Gebiete befreit", sagt Schowkwa.
Beim G7-Gipfel stand die Kampfjet-Koalition im Fokus der Gespräche. Fünf Staaten hätten in Hiroshima klar ihre Unterstützung zugesagt. "Deutschland hat einst die Panzer-Koalition angeführt. Wir sind zuversichtlich und würden uns wünschen, dass Deutschland auch über seine Beteiligung an der Kampfjet-Koalition nachdenkt", erklärt der Diplomat. Konkret gehe es dabei um Eurofighter-Kampfjets. Auch hier macht sich der neue Ton bemerkbar.
"Friedensformel sollte nur ukrainisch sein"
Neben der Frage nach Waffenlieferungen und der symbolischen Bedeutung von Selenskyjs Präsenz wirbt die Ukraine in bilateralen Gesprächen weiter für den eigenen Friedensplan. Auch diesen thematisiert Selenskyj jetzt persönlich. Die Friedensformel des Präsidenten sieht vor, dass Aggression bestraft sowie Sicherheit und territoriale Integrität wiederhergestellt werden.
Den Friedensplänen aus Brasilien, China oder Südafrika erteilt Selenskyjs außenpolitischer Berater eine Absage: "Der Krieg geht auf dem Territorium der Ukraine weiter. Die Friedensformel sollte nur ukrainisch sein. Wir sind bereit, alle Wünsche und Vorschläge zu berücksichtigen, aber es ist sehr wichtig, mit der Umsetzung dieser Friedensformel zu beginnen." Die Ukraine drängt auf einen Gipfel der Weltgemeinschaft, um über eine solche Friedensformel zu beraten.
Angespanntes Verhältnis zu Brasilien
Selenskyj nutzte seine Reisen auch, um mit Verbündeten Russlands ins Gespräch zu kommen. Während es mit Indien zu einem direkten Austausch kam, bleibt das Verhältnis zu Brasilien angespannt.
Vor einigen Wochen wurde bekannt, dass Andrij Melnyk, ehemaliger Botschafter der Ukraine in Deutschland und heutiger Vize-Außenminister der Ukraine, Botschafter in Brasilien werden soll. "Wir hoffen, dass der neue Botschafter nach Abschluss aller relevanten Formalitäten seine Arbeit aufnehmen und noch mehr Dynamik in unsere bilateralen Beziehungen bringen kann", sagt der Selenskyj-Vertraute Schowkwa. Ein konkretes Ziel sei ein Treffen beider Präsidenten.
Die Ukraine sieht Deutschland als "pragmatischen und rationalen" Partner sowie als "Motor der Europäischen Union". Die politische Annäherung in den deutsch-ukrainischen Beziehungen wird nicht nur daran ersichtlich, dass Kanzler Scholz und Präsident Selenskyj sich inzwischen duzen.
Scholz sagte dem Präsidenten bei dessen Deutschland-Visite eine Unterstützung "auf Dauer" zu, Selenskyj lobte Scholz beim Karlspreis in Aachen als "Verteidiger Europas" - Worte, die noch vor einigen Monaten undenkbar schienen. Jetzt setzt die Ukraine bei ihrer europäischen Integration auf deutsche Hilfe. Das erklärte Ziel ist die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen.
Sicherheitsgarantien auch ohne Beitritt
Das gilt auch für ein weiteres Bündnis: die NATO. "Wir sind uns darüber im Klaren, dass die Ukraine erst dann Vollmitglied der NATO werden wird, wenn der Krieg vorbei ist", sagt Schowkwa. "Aber heute müssen wir über einen bestimmten Weg, einen Algorithmus sprechen." Bis dahin sei die Ukraine auf andere Sicherheitsgarantien angewiesen.
"Deutschland beliefert uns mit Luftabwehr- und Raketenabwehrsystemen. Deutschland beliefert uns mit Panzern, mit gepanzerten Fahrzeugen. Auch das sind Elemente einer Sicherheitsgarantie. Und die Sanktionen gegen Russland, die Deutschland initiiert und innerhalb der Europäischen Union unterstützt, sind auch Elemente einer Sicherheitsgarantie", so Schowkwa.
Vom NATO-Gipfel in Vilnius im Juli wünscht sich die Ukraine zunächst eine Vereinbarung über feste Sicherheitsgarantien in einem festen Umfang - und zwar unabhängig von einem Beitritt. Aber Selenskyjs außenpolitischer Berater stellt klar: "Die beste Sicherheitsgarantie für die Ukraine ist heute die NATO-Mitgliedschaft."