Eine Frau geht auf einer Straße in Krywyj Rih, Ukraine (Archiv)
reportage

Ablauf des Fünf-Jahres-Mandats Was denken die Menschen in Selenskyjs Heimatstadt?

Stand: 21.05.2024 01:19 Uhr

Heute beginnt die verlängerte Amtszeit des ukrainischen Präsidenten - wegen des Kriegs sind Wahlen ausgesetzt. Selenskyj erfreut sich zwar weiterer Beliebtheit. Doch Kritik klingt auch in seiner Heimatstadt Krywyj Rih an.

Es ist der Ton, der in Krywyj Rih derzeit das Leben bestimmt: Luftalarm. Anderswo in der Ukraine schwellen die Sirenen an und ab, hier ist es ein gleichmäßiges Sirren. Es ertönt oft mehrmals am Tag. David sitzt mit seinen Mitschülern im Luftschutzkeller seiner Schule. Was würde er machen, wenn er Präsident wäre?

"Den Leuten helfen. Erreichen, dass kein Krieg mehr ist, denn ich will keinen Krieg! Ich möchte, dass er im Sommer vorbei ist, wenn wir wieder zur Schule gehen müssen", sagt der Junge. "Wir haben uns gut mit den Russen verstanden, dann haben sie alle angegriffen und jetzt möchten sie auch Krywyj Rih einnehmen und den Präsidenten töten."

Er schaue kaum Nachrichten, weil sie ihn traurig machen, sagt David. Präsident Wolodymyr Selenskjy kann er aber gut leiden. Schulleiter Serhij Borodavka: "Selenskjy ist hier zur Schule gegangen. Unsere Schule hat die Nummer 94, er war auf der 95. Sie ist nicht weit von hier. Gerade wird sie renoviert. Ich denke, da wird es eines Tages eine Gedenktafel geben, weil der Präsident dort gelernt hat."

Lautstarke Kritik kommt nicht infrage

Gedenktafeln gibt es an dieser Schule auch, neben dem Haupteingang. Sieben schwarze Tafeln. Eine für jeden früheren Schüler, der als Soldat im Krieg getötet wurde. Fünf von ihnen hat Serhij selbst unterrichtet, in Geschichte. Sie hätten Mut bewiesen, sagt er. Genau wie Präsident Selenskyj: "Natürlich kann man über den Präsidenten diskutieren. Aber er hat in den ersten Tagen des Krieges Courage gezeigt. Er hat das Land nicht verlassen, das in großer Gefahr war. Er hat die Verteidigung organisiert. Dafür bin ich ihm sehr dankbar."

Dem Schulleiter ist anzumerken, dass er zu Selenskjy auch ein paar kritische Töne parat hätte. Aber darauf will er nicht näher eingehen. In Kriegszeiten den Präsidenten lautstark zu kritisieren, kommt für viele Ukrainer nicht infrage. Und erst recht nicht in dessen Heimatstadt. Auch Lehrerin Kateryna findet nur positive Worte für ihn.

"Er ist ein großer Mann, mit so einer großen Last auf seinen Schultern. Er ist immer hier in der Ukraine, bemüht darum, Abkommen zu schließen, um uns Hilfe zu besorgen: Geld- und Waffenhilfen", so Kateryna. "Ich kann ihm nur Ausdauer und Stärke wünschen. Ich denke, dass die Ukraine immer noch siegen kann."

Ein Mann zeigt auf Gedenktafeln für Soldaten.

Schulleiter Serhij Borodavka vor den Gedenktafeln für die gefallenen ehemaligen Schüler.

Gefährdete Industriestadt

Der Krieg ist spürbar in Krywyj Rih. Die Front ist nur gut 60 Kilometer entfernt. Immer wieder ist Luftalarm zu hören, gelegentlich auch eine Explosion - wenn die Luftabwehr eine Rakete oder eine Drohne getroffen hat. Manchmal aber kommen Raketen auch an und sorgen für Tod und Zerstörung.

Als Industriestadt ist Krywjy Rih besonders gefährdet. Mykola Stupnik, Rektor der Nationalen Universität der Stadt, berichtet: "Krywyj Rih wird oft das stählerne Herz der Ukraine genannt. In Sowjetzeiten war die Stadt für die Hälfte der Eisenerzproduktion der ganzen Sowjetunion verantwortlich. Mehr als 220 Millionen Tonnen waren das damals. Jetzt ist Krywyj Rihi die Hauptquelle für Eisen und Rohstoffe in unserem Land."

Auch an seiner Uni dreht sich alles um den Bergbau. Sein Büro ist mit Bildern von Tiefladern und Hochöfen geschmückt. Selenskyj hat hier Rechtswissenschaften studiert.

Kabarettgruppe statt Arbeit als Jurist

"Ich habe den Präsidenten gelegentlich getroffen, zu Anfang seiner Amtszeit. Er hat sich das erste Mal mit Wählern in unserer Universität getroffen, in der Aula", so Stupnik. "Ich kenne ihn nicht gut genug, nur seine Auftritte in den Medien. Aber zu seinem Vater, meinem Kollegen, habe ich ein sehr gutes Verhältnis."

Der Vater war hier an der Universität Professor für Kybernetik. Krywyh Rih ist dann doch eine kleine Stadt - zum Sohn haben hier viele eine Meinung und manchmal auch eine Anekdote zu bieten. Zum Beispiel der frühere Jura-Professor von Selenskyj, Valeri Juspuwoch.

Selenskyj habe sich mehr für Comedy-Auftritte an der Uni interessiert, sagt er uns mit einem Lächeln. Studium sei für ihn eher Nebensache gewesen. Tatsächlich hat Selenskyj nie als Jurist gearbeitet, sondern gleich nach dem Studium eine Kabaretttruppe gegründet. "Kwartel 95" hieß sie, benannt nach seinem Wohnviertel in Krywjy Rih.

Von Comedy-Auftritten ist in der Uni heute wenig zu spüren. Wegen der ständigen Luftalarme ist das Gebäude weitgehend verwaist, die meisten Studierenden arbeiten zu Hause. Studentin Viktoria ist heute ausnahmsweise hier. Auch sie hat nur Gutes über Präsident Selenskyj zu sagen: "Ich bin sehr stolz darauf, dass er aus meiner Stadt kommt. Ich bin auf die Schule gegangen, auf der er auch war. Jetzt führt er einen ganzen Staat in diesen schwierigen Zeiten."

Laut Umfragen sanken Beliebtheitswerte

Umfragen zeigen aber durchaus, dass Selenskyj in der Ukraine an Beliebtheit eingebüßt hat. Viele werfen ihm vor, dass er und sein engerer Zirkel sich an die Macht klammern, dass er nicht hart genug gegen die Korruption durchgreift. Und dass die schwierige militärische Lage auch auf Selenskyjs Fehlentscheidungen beruht.

Doch Neuwahlen kommen erst mal nicht infrage: In der Ukraine gilt Kriegsrecht. Erst wenn es ausgesetzt wird, darf wieder gewählt werden. Eine große Mehrheit in der Ukraine findet es richtig, jetzt keine Neuwahlen abzuhalten. Das zeigt eine aktuelle Umfrage. Auch Schulleiter Borodavka ist dagegen.

"Wahlen wären vielleicht aus politischer Sicht nötig. Dann gäbe es keine Vorwürfe, dass der Präsident nicht mehr rechtmäßig im Amt sei", so Borodavka. "Auf der anderen Seite ist es einfach unmöglich, Wahlen abzuhalten, während gekämpft wird. Viel Staatsgebiet ist verloren, es gibt viele Flüchtlinge und viele sind an der Front. Da ist es absolut unmöglich, geordnet Wahlen abzuhalten."

Kurz darauf heult wieder die Sirene. Schon eine Schule am Laufen zu halten, ist in diesen Zeiten in Krywyj Rih eine Herausforderung.

Marc Dugge, NDR, tagesschau, 20.05.2024 23:25 Uhr