Dissidenten im Ausland Keine Sicherheit, nirgends
Kashoggi, Protasewitsch, nun wohl Schischow - immer mehr Oppositionelle werden im Ausland entführt oder getötet. Grenzüberschreitende Repressionen würden zur Normalität, sagen Experten - und fordern Konsequenzen.
Der Verdacht lag sofort nahe - schon als bekannt wurde, dass der junge Belaruse Vitali Schischow in Kiew vermisst wird: Die Führung von Belarus könnte dahinterstecken. Schischow hatte Landsleuten geholfen, die vor dem Regime Alexander Lukaschenkos in die benachbarte Ukraine fliehen mussten. Nun wurde er erhängt in einem Kiewer Park gefunden, die Polizei ermittelt wegen Mordes.
Der Verdacht kam auf, weil Belarus zuvor andere Kritiker im Ausland drangsalierte: Stunden vor Schischows Verschwinden war die Sportlerin Timanowskaja von Mannshaftsbetreuern an den Flughafen in Tokio gebracht worden, sie sollte gegen ihren Willen nach Belarus fliegen, wo sie wegen Kritik an ihren Trainern Repressionen fürchtete. Im Mai hatte Lukaschenko eine Ryanair-Maschine zur Landung gezwungen, um den Blogger Roman Protasewitsch festnehmen zu lassen.
Vitali Schischow
2016 war in Kiew der belarusische Journalist Pawel Scheremet mit einer Bombe getötet worden. Die Tat ist bis heute nicht aufgeklärt. Im Januar gab es einen Medienbericht über eine mögliche Beteiligung einer belarusischen KGB-Sondereinheit.
Gewalt und Entführungen
Seit Niederschlagung der Proteste nach der Präsidentschaftswahl im August 2020 steht Belarus im Fokus. Auch andere Staaten zögern nicht, Repressionen gegen Oppositionelle und Unabhängige im Ausland anzuwenden. Ein Beispiel ist der Iran - immer wieder werden Fälle vor Gericht gebracht: In Belgien wurde im Januar ein Diplomat aus dem Iran wegen Anschlagsplänen auf eine Veranstaltung Exil-Oppositioneller in Paris verurteilt.
Als besonders grausam bleibt der Fall des saudiarabischen Journalisten Jamal Khashoggi in Erinnerung. Er war war im Oktober 2018 im Konsulat von Istanbul von einem aus Saudi-Arabien angereisten Spezialkommando ermordet worden. Viele andere Fälle wie der des Journalisten Afgan Muchtarli schaffen es kaum in die Medien. Er war 2017 aus der georgischen Hauptstadt Tiflis in sein Heimatland Aserbaidschan verschleppt und dort zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt worden.
Hunderte Fälle
Transnationale Repression sei zur Normalität geworden, stellt die US-Organisation Freedom House in einem aktuellen Bericht fest. Freedom House wird von der US-Regierung, der EU und einzelnen Staaten sowie privaten Geldgebern finanziert.
608 Fälle sammelte die NGO von Januar 2014 bis November 2020, bei denen Behörden des Herkunftslandes auf im Ausland lebende Personen einwirkten, sei es durch Inhaftierung, Angriffe und Einschüchterung, Ermordung oder rechtswidrige Veranlassung von Auslieferungen. Die Fälle verteilen sich auf 31 Herkunftsstaaten, die in 79 Aufnahmeländern aktiv wurden. Doch die Zusammenstellung sei unvollständig - insbesondere Inhaftierungen und unrechtmäßige Abschiebungen seien zumeist nicht ausreichend dokumentiert.
Agenten und Spähsoftware
Die Staaten scheuen keinen Aufwand und setzen auf verschiedenste Mittel, um ihrer vermeintlichen Gegner habhaft zu werden. Im Fall der Vergiftung der Skripals in Großbritannien wurden zwei russische Agenten identifiziert. Der Blogger Protasewitsch berichtete, er sei vor dem Abflug in Wien verfolgt worden, mutmaßlich von Agenten des belarusischen KGB.
Beim Ausspionieren Oppositioneller hilft Technik wie die Spähsoftware "Pegasus". So fanden sich auf einer Ausspähliste die Mobilfon-Nummern von Personen aus dem Umfeld Kashoggis.
Staaten wie Aserbaidschan können die Abhängigkeit der Gastländer ausnutzen. Georgien zum Beispiel bezieht sein Gas aus Aserbaidschan. Oppositionelle gehen davon aus, dass der Journalist Muchtarli zumindest mit Wissen georgischer Behörden entführt wurde. Zudem nutzen Staaten die Möglichkeiten internationaler Polizeikooperation mittels Interpol bei der Personensuche.
Gefährdung Unbeteiligter
Öffentlicher Druck entsteht, wenn Unbeteiligte gefährdet werden. Das trifft auf den Fall Skripal und die Ermordung des Georgiers Zelimkhan Khangoshvili in Berlin zu. Beides fand am helllichten Tage in der Öffentlichkeit statt. In England starb eine Britin, ihr Freund erlitt eine Vergiftung mit dem Gift Nowitschok.
Lukaschenko nahm die Gefährdung von mehr als 120 Menschen in Kauf, als er den Flieger mit Protasewitsch an Bord zur außerplanmäßigen Landung zwang. Um Lukaschenko und potenziellen Nachahmern rote Linien aufzuzeigen, reagierten die EU und Partnerstaaten schnell, zum Beispiel mit Luftraumsperren.
Strafen für Verantwortliche
Ansonsten bleibt die Liste unerfüllter Forderungen von Organisationen wie Freedom House lang. Vorn stehen Sanktionen gegen Personen, die grenzüberschreitende Repressionen anordnen. Ein Vorbild sind die Magnitski-Gesetze in den USA mit Reiseverboten und dem Einfrieren von Vermögen. Solche persönlichen Strafen kommen immer häufiger zur Anwendung. Oppositionelle aus Russland und Belarus fordern sie, statt die Bevölkerung ihrer Staaten indirekt zum Beispiel mit Handelsverboten zu bestrafen.
Die Ausweisung von Diplomaten und Agenten hat eher symbolischen Wert - unbesetzte Posten werden nach einer Weile neu besetzt. Zudem werden zumeist im Gegenzug Diplomaten und Residenten von BND und BKA ausgewiesen, deren Nachfolger sich neu einarbeiten müssen.
Rigoros ging Tschechiens Regierung vor, nachdem Ermittler russische Agenten für die Explosion eines Waffen- und Munitionsdepots verantwortlich gemacht hatten: Russlands Botschaft in Prag soll dauerhaft reduziert bleiben. Sie sei eine Spionagebasis innerhalb der EU.
Zudem fordert Freedom House einen besseren Umgang mit Asylbewerbern, um Abschiebungen zu verhindern, sowie Kooperation mit Gefährdeten vor Ort. Immer wichtiger wird Zensur- und Spähtechnologie, wie "Pegasus" zeigt. Die Rechercheerkenntnisse dazu legen nahe, dass autoritär regierte Staaten solche Mittel großzügiger einsetzen als von der israelischen Herstellerfirma NSO angegeben. Freedom House fordert für solche Firmen strengere Offenlegungs- und Rechenschaftspflichten. Letztlich ist das auch im Interesse demokratischer Staaten - deren Regierungen können selbst zum Ziel werden, wie nicht nur das Beispiel Frankreich bei "Pegasus" zeigt.