Britisches Kabinett umgebildet Chaostage in London
Nachdem die britische Premierministerin Truss bereits ihren Finanzminister ersetzte, schied nun auch die Innenministerin aus. Chaos in Westminster, das Kabinett zeigt Auflösungserscheinungen - und dann gab es noch einen Eklat im Unterhaus.
In der Fragestunde des Parlaments am Mittag schleuderte Premierministerin Liz Truss den Rücktrittsforderungen der Opposition noch den Slogan entgegen, sie sei eine "Kämpferin und kein Drückeberger".
Die Lage schien sich etwas beruhigt zu haben, nachdem Truss mit geplanten Steuererleichterungen ein Finanzchaos ausgelöst hatte und mit dem neu ernannten Finanzminister Jeremy Hunt zu Wochenbeginn eine politische 180-Grad-Wende hinlegen musste.
Innenministerin tritt zurück
Dann aber am Nachmittag gab es eine neue Irritation: Der plötzliche Rücktritt von Innenministerin Suella Braverman. In ihrem Rücktrittsschreiben führte Braverman als Grund an, sie habe Regierungspapiere über einen privaten Mail-Account verschickt, für diesen Regelbruch übernehme sie die Verantwortung. Weiter schrieb sie:
So zu tun, als hätten wir keine Fehler gemacht, so weiterzumachen, als ob nicht jeder sehen könnte, dass wir sie gemacht haben, und zu hoffen, dass die Dinge auf magische Weise gut werden, ist keine ernsthafte Politik. Ich habe einen Fehler gemacht; Ich übernehme Verantwortung; Ich trete zurück.
Eine Spitze gegen Truss, die dafür kritisiert worden war, dass sie wegen des Steuerplan-Fiaskos nicht selbst zurückgetreten war, sondern ihren Finanzminister geopfert hatte. Im zweiten Teil des Briefs aber schoss Bravermann dann unverhohlen deutlich gegen Truss: Sie mache sich Sorgen über die Richtung der Regierung, man habe wichtige Versprechen gebrochen und sich vom Wahlprogramm verabschiedet.
Braverman vom sehr rechten Flügel
Die ehemalige Generalstaatsanwältin Suella Braverman gehört dem sehr rechten Flügel der konservativen Partei an und steht für ein härteres Vorgehen bei Abschiebungen. Sie schwärmte beim konservativen Parteitag Anfang Oktober, sie träume von einem Titelfoto auf dem konservativen "Daily Telegraph" mit dem ersten von der Regierung organisierten Abschiebeflug nach Ruanda.
Bei einer Debatte über härte Strafen für Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, wie etwa Verkehrsblockaden von radikalen Umweltschützern, hatte Braverman in dieser Woche gewettert, man habe es mit einer "Koalition des Chaos, mit Guardian-lesenden, Tofu-essenden Wokerati" zu tun.
Ex-Verkehrsminister neuer Innenminister
Hinter den Kulissen soll es zwischen Truss und Braverman Streit um das Thema Zuwanderung gegeben haben. Truss braucht für ihr Wachstumsprogramm Arbeitskräfte von außen, das war wohl mit Braverman nicht zu machen.
Ersetzt wurde die Innenministerin durch den ehemaligen Verkehrsminister Grant Shapps. Der hatte sich im Wahlkampf um das Amt des Premierministers für den Truss-Rivalen Rishi Sunak engagiert. Shapps gestand beim Fototermin vor dem Innenministerium ein, die Regierung mache gerade schwere Zeiten durch.
Tumulte bei Abstimmung im Unterhaus
Doch der Tag war ja noch nicht zu Ende. Tumulte gab es gestern Abend dann noch im Unterhaus rund um eine Abstimmung zu Fracking-Rechten. Der Antrag der oppositionellen Labour-Partei wurde zwar mit großer Mehrheit abgelehnt. Doch viele konservative Abgeordnete sollen nur äußerst widerwillig gegen den Labour-Vorschlag gestimmt haben, der ein Gesetzgebungsvorhaben zum Fracking-Verbot einleiten sollte. Es gab auch eine ganze Reihe von Enthaltungen.
Dabei sollen die Whips, die für die Fraktionsdisziplin zuständig sind, einige Kollegen tätlich in den entsprechenden Abstimmungsraum gezwungen haben. Konservative Abgeordnete hätten nicht frei und ungehindert abstimmen können, so der Labour-Abgeordnete Chris Bryant anschließend im Plenum:
Ich habe Handgreiflichkeiten gesehen und Einschüchterungsversuche.
Auch bei Twitter wurden entsprechende Beobachtungen geschildert. Wirtschaftsminister Jacob Rees-Mogg widersprach diesen Darstellungen.
Verwirrung um angebliche Vertrauensabstimmung
Bis kurz vor der Abstimmung hatte wohl Unklarheit darüber bestanden, ob es sich aus Sicht der konservativen Partei um eine Vertrauensabstimmung handelte. In dem Fall hätten Abgeordnete, die sich nicht an die Fraktionsdisziplin halten, mit einem Fraktionsausschluss rechnen müssen.
Nach der Abstimmung gab es stundenlang Gerüchte, Chief Whip Wendy Morton und ihr Stellvertreter Craig Whittaker seien zurückgetreten. Am späten Abend erklärte 10 Downing Street, die beiden seien noch im Amt.
"So einen Tag habe ich noch nie erlebt"
Der Sprecher des Hauses will die Vorgänge rund um die Abstimmung nun untersuchen. Der langjährige konservative Parlamentarier Charles Walker schilderte in der BBC anschließend sein Entsetzen:
"Wir hatten ein paar wilde Tage rund um den Brexit, aber so einen Tag habe ich noch nie erlebt. Das ist unentschuldbar, eine Schande, entsetzlich. Ich bin so wütend, wie diese Regierung unsere Partei beschädigt, ich habe genug."
Nach einem Chaos-Tag in Westminster könnten für Liz Truss inzwischen die Stunden gezählt sein, nicht nur die Tage. Der Knackpunkt daran ist allerdings, dass die Fraktion einen Plan haben müsste, wer Truss ersetzen soll und mit welchem Verfahren das entschieden wird. Der Ruf nach vorgezogenen Neuwahlen wird immer lauter. Doch bei einem Rückstand von mehr als 30 Prozent auf die Labour-Partei bei Meinungsumfragen dürfte das für die Konservativen keine Option sein.