Türkische Außenpolitik "Verstörend und erratisch"
Die Logik der türkischen Außenpolitik sei nicht mehr nachzuvollziehen, sagt Martin Erdmann, Ex-Botschafter in der Türkei. Nun wolle Präsident Erdogan sich im Krieg gegen die Ukraine wohl auf die richtige Seite schlagen, bevor es zu spät sei.
tagesschau.de: Wie ist der Schlingerkurs der Türkei der vergangenen Wochen und Tage zu bewerten? Die lange Blockade der schwedischen NATO-Mitgliedschaft, die Forderung nach EU-Beitrittsgesprächen und dann das plötzliche Einschwenken - welchem Drehbuch folgt Erdogan dabei?
Martin Erdmann: Es ist in der Tat schwer, sich einen Reim darauf zu machen. Selbst für jemanden wie mich, der sich seit vielen Jahren mit der türkischen Innen- und Außenpolitik beschäftigt. Meine Bewertung dessen, was wir vor allem in jüngerer Zeit erleben, lautet, dass die türkische Außenpolitik verwirrend ist.
Sie ist verstörend für Bündnispartner, und sie ist in Teilen erratisch, und das beste Beispiel dafür ist, was wir am Montag erlebt haben. Da macht der türkische Präsident in Ankara vor seinem Abflug nach Vilnius eine sehr bedeutsame Ankündigung, nämlich die Forderung nach Wiederaufnahme der EU-Beitrittsverhandlungen und schließlich einen EU-Beitritt. Und zwölf Stunden später kippt er diese Forderung wieder. Das ist nicht mehr nachvollziehbar.
"Wohin gehört eigentlich diese Türkei?"
tagesschau.de: Verfolgt die türkische Außenpolitik also keine Strategie?
Erdmann: Jedenfalls vermag ich eine Strategie in jüngerer Zeit nicht mehr zu erkennen. Wir erleben im Zusammenhang mit Russland und der NATO und gegenüber der Ukraine eine Schaukelpolitik. Es ist eine Ad-hoc-Politik, oftmals nach Tagesverfassung oder Tagessituationen ausgerichtet.
Dieser Präsident nimmt an einem NATO-Gipfel teil, trägt die NATO-Erklärungen mit und versucht gleichzeitig, sich als Gesprächspartner von Präsident Putin darzustellen - trotz dessen verbrecherischen Angriffskrieges. Das passt nicht zusammen. Und man fragt sich letztlich: Wohin gehört eigentlich diese Türkei?
"Kein durchgängiges Leitmotiv"
tagesschau.de: Wie erklären Sie sich die plötzlich sehr pro-ukrainische Positionierung der Türkei in der letzten Woche: die Rückführung der Asowstal-Kämpfer in die Ukraine etwa, und die Forderung nach einer NATO-Mitgliedschaft der Ukraine?
Erdmann: Ich vermag kein durchgängiges Leitmotiv zu identifizieren. Wenn ich gutmütig bin und das nicht nur als verwirrend bezeichne, dann würde ich sagen, ist es das Bemühen des türkischen Präsidenten, sich auf der internationalen Bühne als bedeutenden Spieler zu präsentieren, der durch seine erratischen Bewegungen viel Aufmerksamkeit erregt. Und der hofft, damit vor dem heimischen Publikum Punkte machen zu können.
Aber die Wahlen sind ja seit Mai vorbei. Es gibt also keinen Grund dafür, die Außenpolitik auf dem Altar der Innenpolitik zu opfern. Es macht letztlich alles keinen Sinn.
"Internationaler Druck zu groß geworden"
tagesschau.de: Für das plötzliche Einlenken in den Verhandlungen um die schwedische NATO-Mitgliedschaft muss es aber doch einen Grund geben. Was hat sich da an möglicherweise ausschlaggebenden Dynamiken verändert?
Erdmann: Meine Mutmaßung ist, dass der internationale Druck durch wichtige Bündnispartner so groß geworden ist, dass der Präsident seine Position ohne massiven Gesichtsverlust im Bündnisrahmen nicht mehr halten konnte.
Die türkische Forderung, die EU-Beitrittsverhandlungen wieder aufzunehmen und schließlich EU-Mitglied zu werden, ist ja unisono vom amerikanischen Außenministerium, vom deutschen Bundeskanzler und anderen abgewiesen worden.
In der internationalen Politik ist eine Forderung, EU-Beitrittsverhandlungen wieder aufzunehmen, die 2018 auf Eis gelegt wurden und schon seit 2005 laufen, eine solch bedeutende, gravierende Forderung - die wirft man nicht einfach mal so in den Ring. Wenn man das tut, muss man sich sehr genau überlegen, welche Konsequenzen das hat. Und mir scheint das alles einfach nicht durchdacht zu sein.
Erdogan musste erkennen, dass er von diesem Ast, auf den er sich da begeben hat, wieder heruntersteigen musste. Ich glaube, am Montag war ausschlaggebend: Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Anders kann ich mir das nicht erklären.
"Auf richtige Seite schlagen, bevor es den Bach runtergeht"
tagesschau.de: Bislang hatte Erdogan versucht, sich als neutralen, unverzichtbaren Friedensstifter zu positionieren. Haben sich die strategischen Interessen vis-à-vis Russland und der Ukraine verschoben?
Erdmann: Das Verhältnis der Türkei zu Russland und zwischenzeitlich zur Sowjetunion ist seit Jahrhunderten sehr angespannt. Es geht um die Fragen: Wer hat das Sagen im westlichen Zentralasien und im Kaukasus?
Insofern ist das Verhältnis Erdogans zu Putin - insbesondere nach Beginn des russischen Vernichtungskrieges - ein sehr ungewöhnliches und passt im Grunde nicht in die historisch gewachsene Logik der türkisch-russischen Beziehungen. Erdogans Taktik schien darauf hinauszulaufen, sich auf der internationalen Bühne interessant zu machen.
Doch nun hat Erdogan wahrscheinlich erkannt, dass Russland strategisch und aus globaler Perspektive der Verlierer des Krieges ist. Selbst in Ländern wie China, Südafrika, Brasilien verstummt langsam die unterstützende Rhetorik. Möglicherweise will Erdogan sich zum richtigen Zeitpunkt noch auf die richtige Seite schlagen, bevor die Dinge den Bach runtergehen.
"Massiver Ansehensverlust"
tagesschau.de: Wie konnte Erdogan es sich leisten, so offensiv gegen die Interessen des eigenen Verteidigungsbündnisses zu agieren? Hat ihn das geschwächt?
Erdmann: Erdogan hat, glaube ich, einen massiven Ansehensverlust ertragen müssen, was allerdings niemand öffentlich formuliert, weil alle wissen, dass wir auf diesen Präsidenten angewiesen sind. Wir brauchen die Türkei als Stabilitätsanker in einer sehr volatilen Region.
Außerdem ist die Hälfte der türkischen Bevölkerung sehr westlich orientiert - und die wollen wir nicht verlieren. Und drittens hat die Türkei mit Blick auf die Migrations- und Flüchtlingssituation eine bedeutende Rolle. Das alles sind Gründe, warum die europäische Außenpolitik und die Bündnispolitik sehr behutsam mit der Türkei und ihrem Präsidenten umgeht.
Bedeutung der NATO für Türkei
tagesschau.de: Es wirkt, als spiele die NATO im sicherheitspolitischen Kalkül Erdogans eine sehr untergeordnete Rolle.
Erdmann: Ganz im Gegensatz zur Vergangenheit. Doch das hat sich unter Erdogan tatsächlich sehr geändert. Trotzdem ist die NATO für die Türkei elementar wichtig - aber weniger als Verteidigungsbündnis als als internationale Organisation, in der die Türkei ein bedeutendes Wort mitzureden hat.
Die NATO ist neben den Vereinten Nationen die einzige Organisation, in der die Türkei auf Augenhöhe mit ihren Mitgliedspartnern agieren kann. Wie wir ja gesehen haben - an der Diskussion um den Beitritt Schwedens.
Das Gespräch führte Christoph Schwanitz, tagesschau.de