Die Abgeordnete Suzan Sahin im Wahlkampf in einem Zeltlager in Iskenderun
weltspiegel

Türkei Wahlkampf unter Verzweifelten

Stand: 07.05.2023 06:01 Uhr

Im türkischen Erdbebengebiet warten viele Menschen immer noch auf eine Zukunftsperspektive. Das erschwert den Wahlkampf von Erdogans AKP. Doch auch die Kandidaten der Opposition müssen gegen die Resignation ankämpfen.

Es ist sehr heiß in den Zelten und Containern in der Stadt Iskenderun. Viele Menschen in dem provisorischen Lager in der Mittelmeerstadt haben alles verloren, wissen nicht, wie es weitergehen soll. Etwa 23.000 Menschen kamen in der Provinz Hatay bei dem verheerenden Erdbeben im Februar ums Leben, Hunderttausende verloren ihre Unterkunft.

Der Wahlkampf spielt hier allerdings kaum eine Rolle. Große, laute Veranstaltungen der Parteien gibt es nicht, die in der Türkei sonst überall in großer Zahl hängenden Plakate der Kandidaten und Parteien sieht man kaum.

Dennoch: Die Menschen verlangen von der Politik gerade jetzt Lösungen, sind oft verbittert.

Wahlkampf im türkischen Erdbebengebiet

Markus Rosch, ARD Istanbul, Weltspiegel, 07.05.2023 18:30 Uhr

Drängende Fragen

Suzan Sahin kommt aus der nahegelegenen Stadt Döryol. Seit 2018 sitzt die Anwältin für die oppositionelle CHP im Parlament. Als sie das Zeltlager in Iskenderun besucht, umringen sie sofort Menschen, die wissen wollen, wie es nun weitergehen soll.

Sahin erhebt schwere Vorwürfe gegen die Regierung, sagt, dass es in drei Monaten seit dem Beben nicht gelungen sei, eine Infrastruktur aufzubauen. In Europa könne ein Fertighaus in 15 Tagen geliefert werden, hier lebten die Menschen noch immer in Zelten. Das sei unerträglich. Im ARD-Interview sagt Sahin, dass viele hier "Angst vor dem Alleinsein" hätten und schwer traumatisiert seien.

Dann schaltet sie wieder in den Wahlkampfmodus um, wirbt für ihr Parteienbündnis. "Wer Gerechtigkeit will, soll zu uns kommen" - mit diesen Worten verlässt sie das Camp, es geht zum nächsten Termin.

Zwei ältere Männer sitzen in der Nähe, an einem kleinen Plastiktisch, spielen Karten. Die Wahl interessiere sie kaum, sagen sie, wählen wollten sie zwar schon, aber ohne Erwartungen - für sie werde sich sowieso nichts ändern.

Das Versprechen: Hoffnung

Mit ihrem Autokonvoi ist Sahin mittlerweile in die Innenstadt von Iskenderun gefahren. Gegenüber einer schwer beschädigten Kirche besucht sie Geschäfte. Viele Händler haben zwar wieder geöffnet, das Geschäft läuft aber mau.

Sahin versucht, ihnen Hoffnung zu machen: Bei einem Wahlsieg der Opposition werde alles besser werden, vor allem im Bereich der Wirtschaft. Wie genau das gehen soll sagt sie nicht.

Skepsis überwiegt hier, aus einem Ladenbesitzer bricht es raus: "Ich weiß nicht, was ich machen soll, ich habe Angst vor diesen Wahlen", sagt er und zeigt auf seine leere Auslage.

Sahin versucht, ihn zu trösten, den besonderen Zusammenhalt in der Stadt, den könne man nirgendwo sonst so finden. Dann verabschiedet sie sich.

Die Abgeordnete Suzan Sahin im Wahlkampf in in Iskenderun (Türkei)

Versucht, mit dem Prinzip Hoffnung die Wähler für sich zu gewinnen: die Abgeordnete Sahin von der CHP

Die Abgeordnete Yayman verteilt in Samandag (Türkei) Backwerk an Wähler

Wahlwerbung geht auch durch den Magen: der Abgeordnete Yayman von der AKP

Ungebrochener Optimismus bei der AKP

Rund zwei Autostunden von Iskenderun entfernt besucht Hüseyin Yayman die Stadt Samandag, nahe der syrischen Grenze. Das hier ist keine Hochburg seiner Partei, der AKP und der Andrang ist überschaubar. Doch der Journalist, der auch seit 2018 im Parlament sitzt, strahlt große Selbstsicherheit aus.

Erst einmal verteilt Yayman Süßigkeiten. "Wir sind hier um das Leid zu teilen, gemeinsam Wunden zu heilen", sagt er im Interview. Eine Wahlkampagne wolle er nicht machen, das sei unpassend in diesen Zeiten. Die Regierung habe zwar in den ersten Tagen nach dem Beben Fehler gemacht, seitdem laufe aber alles sehr gut.

Am Zeltlager gegenüber dem Süßigkeiten-Geschäft läuft er aber vorbei. Besuch: Fehlanzeige. Obwohl das angekündigt war.

Dann entdeckt er einige Straßen weiter eine Mutter mit ihren Kindern vor einem Zelt neben einem zerstörten Haus. Yayman eilt hin. Die Kinder werden umarmt, der Mutter Versprechungen gemacht: "Wir erfüllen jeden Wunsch. Jeder der einen Wohncontainer will bekommt einen. Innerhalb eines halben Jahres." Dann zieht die Karawane weiter, zurück bleibt eine sichtlich verwirrte Frau.

Ein Heimspiel in den Bergen

Im Autokonvoi geht es in die Berge, nach Kapisuyu. Ein Heimspiel - das Dorf ist streng religiös und national, klassische Wähler der AKP und ihrer Partner.

Yayman hält eine Rede, lobt ausschweifend die Politik seines Präsidenten. Der habe die Türkei erneuert, sei Behüter des Islam und habe das Land zurück auf die politische Weltbühne gebracht. "Erdogan, Erdogan" rufen die Teilnehmer.

Frauen und Männer sitzen hier getrennt. Am Ende wird der Koran rezitiert und gebetet. Im Interview sagt Yayman, dass er nicht auf Umfragen schaue, sondern nur auf die Menschen höre.

Fehler? Längst überwunden

Auf die Kritik, die Regierung habe Fehler beim Erdbebenmanagement gemacht, sagt er, diese sei richtig, das bedauere er. Auch er habe zwölf Familienmitglieder bei dem Jahrhundertbeben verloren. Seit langem aber werde die Hilfe "sehr systematisch und geordnet und in großem Ausmaß zu den Menschen gebracht".

Am Ende mischt er sich noch unter die Zuhörer, sagt, dass die Menschen in Hatay vieles brauchen würden, vor allem aber "Liebe und Zuneigung".

Yayman ist sich sicher, dass auch diesmal die religiösen Wähler für Erdogan stimmen werden. Und der alte auch der neue Präsident sein wird.

Angst vor Manipulationen

Suzan Sahin von der CHP hat am Ende ihres Tages ebenfalls einen Termin der angenehmen Sorte - ein Treffen mit Parteianhängern in einem Vorort von Iskenderun. Hier schwört sie die Basis noch einmal auf den Wahlkampf-Endspurt ein, durchaus pathetisch: "Den Kampf führen wir für die gesamte Türkei, der Wohlstand der Menschen, hängt von dieser Wahl ab." Die Basis klatscht begeistert.

Doch die große Sorge der Opposition sei, dass bei der Auszählung der Wahlstimmen betrogen wird, sagt sie. Deshalb will die Opposition an jeder der 192.000 Wahlurnen zwei Wahlbeobachter platzieren. Eine logistische Herausforderung, aber man habe schon 500.000 Menschen mobilisiert, darunter viele freiwillige Anwälte, sagt Sahin.

Außerdem hoffe sie, dass alle Erdbebenopfer, die in anderen Provinzen geflüchtet seien, ihre Stimme abgeben könnten. Dafür müsse die Regierung sorgen, wenn nötig mit den kostenlosen Transporten am Wahltag.

Sahin ist sich sicher: Ihr Kandidat, Kemal Kilicdaroglu wird zum Präsidenten gewählt. Sie hofft, schon im ersten Wahlgang.

Manchmal ruht der Wahlkampf

Dann nimmt Sahin das ARD-Team spontan mit zu einem Ort in der Innenstadt Iskenderuns. Ein Besuch ohne Wähler, ohne weitere Medienvertreter. Sie zeigt uns den Ort, an dem sie am Tag nach dem Erdbeben war.

Hier habe ein Junge beide Beine verloren, weil keine Hilfe kam. Dort habe eine Frau stundenlang neben ihrem toten Sohn geweint. Dann ist Suzan Sahin lange ganz ruhig und hat Tränen in den Augen. Und der Wahlkampf ist auf einmal ganz weit weg.

Diese und weitere Reportagen sehen Sie am Sonntag im Weltspiegel - um 18.30 Uhr im Ersten. Ebenfalls am Sonntag berichten die tagesthemen ab 22.45 Uhr über die Türkei vor der Wahl. Ein Thema ist auch dort der Wahlkampf im Erdbebengebiet. Am Montag berichten die tagesthemen ab 22.15 Uhr live aus Istanbul über den Endspurt im Wahlkampf mit Reportagen und Interviews.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete der Weltspiegel am 07. Mai 2023 um 18:30 Uhr.