Von der Leyen in Ankara Die neue Rolle der Türkei
Die Entwicklung in Syrien verleiht der Türkei neue Stärke - auch gegenüber der EU. Dem trägt auch EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen Rechnung, wenn sie heute nach Ankara reist. Hat sie Präsident Erdogan etwas anzubieten?
Beim letzten Besuch der EU-Kommissionspräsidentin im April 2021 kam es zum Eklat. Nur der damalige EU-Ratspräsident Charles Michel durfte auf einem Sessel neben dem türkischen Präsident Recep Tayyip Erdogan Platz nehmen.
Ursula von der Leyen musste hingegen abseits auf einem Sofa sitzen. In die Geschichte ging das als "Sofa-Gate" ein. "Ich fühlte mich verletzt und allein gelassen, als Frau und als Europäerin", beklagte sich von der Leyen später.
Inzwischen hat sich das Verhältnis aber wieder normalisiert, auch weil beide Seiten aufeinander angewiesen sind.
So sah es 2021 aus: Von der Leyen wurde ein Platz am Rande zugewiesen - eine Form der Herabwürdigung, die unübersehbar war.
Die Schlüsselrolle der Türkei
Zu den vielen Themen, die bei den Gesprächen zwischen Brüssel und Ankara auf der Tagesordnung stehen, ist zuletzt ein weiteres hinzugekommen: die Lage in Syrien.
Beim Sturz des Assad-Regimes hat die Türkei kräftig mitgeholfen. Ohne die militärische und logistische Unterstützung der syrischen Opposition wäre das Regime in Damaskus wohl nicht so schnell zusammengebrochen. Vor seinen Parteifreunden machte das der türkische Präsident am 10. Dezember deutlich:
"Ich sage es ganz offen: Die Türkei hat große Anstrengungen unternommen, Syrien dorthin zu bringen, wo es jetzt ist."
Eine neue Bedeutung und Stärke
Das hat die Gewichte in den Beziehungen noch einmal etwas verschoben. Selbst Erdogan-Kritiker wie die Online-Journalistin Müesser Yıldız geben zu, dass die Türkei aus Sicht der USA und der EU wieder an Bedeutung gewonnen hat.
Erdogans Regierung wiederum sieht sich in einer Position neuer Stärke gegenüber der EU, weil man in Ankara wahrnimmt, dass rechte Parteien in der Union die syrischen Flüchtlinge in Europa immer wieder für Kampagnen instrumentalisieren. Die EU plant, die Menschen mittelfristig zurückzuschicken. Dazu braucht sie die Türkei.
Der Ex-Diplomat und Chef des Center of Economics and Foreign Policy in Istanbul, Sinan Ülgen, sagt im ARD-Interview, dass der Einfluss der Türkei immer weiter zunehme, vor allem, weil das Land "die wichtigen Transitrouten nach Syrien kontrolliert". Außerdem habe die Erdogan-Regierung "beste Verbindungen zur syrischen Übergangsregierung".
Hilfe im Gepäck
Der Besuch der EU-Chefin kommt deshalb zur richtigen Zeit. Von der Leyen kündigte schon im Vorfeld umfangreiche Hilfe für Syrien an: Eine Luftbrücke soll eingerichtet werden, um humanitäre Hilfe zu leisten. Sie erklärte, dass der EU-Hilfsfonds für dieses Jahr auf mehr als 160 Millionen Euro erhöht wurde.
Damit sollen medizinische Versorgung, Lebensmittel und Unterkünfte bereitgestellt werden. In Adana, im Südosten der Türkei, sollen zunächst 50 Tonnen medizinische Güter aus den EU-Lagern in Dubai eintreffen. Details will von der Leyen in Ankara besprechen. "Die instabile Lage in Syrien erfordert unsere Unterstützung. Wir stehen an der Seite des syrischen Volkes", sagte die Kommissionspräsidentin.
Rückführung der Flüchtlinge?
Die Rückführung von Flüchtlingen und die Zusammenarbeit mit der neuen syrischen Führung dürfte also ein wichtiges Thema bei den Gesprächen sein. Präsident Erdogan, das wird erwartet, wird wohl die Bedeutung einer sicheren und freiwilligen Rückkehr von Flüchtlingen betonen und die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit der EU unterstreichen.
Das hat für Erdogan auch eine innenpolitische Dimension. In der Türkei leben etwa drei Millionen syrische Flüchtlinge. Anfangs wurden die Flüchtlinge willkommen geheißen, oft auch gut integriert. In der letzten Zeit hat sich das Klima aber gedreht. Es mehren sich Stimmen, die fordern, diese Flüchtlinge zurückzuschicken.
Selbst die Opposition hat bei den letzten Wahlen die Flüchtlinge zum Thema gemacht und damit Erdogans AKP zugesetzt. Allerdings steht einer schnellen Abschiebung entgegen, dass etwa 250.000 Syrer schon die doppelte Staatsbürgerschaft haben.
Zugeständnisse an die Türkei?
In der EU richtet sich der Blick auf die Verhältnisse in Syrien selbst. Mehrere Staaten wie Deutschland, Frankreich und Schweden haben die Bearbeitung syrischer Asylanträge ausgesetzt. Und die EU-Kommission hat gerade erst erklärt, dass EU-Staaten unter bestimmten Umständen das Asylrecht einschränken dürfen. Allerdings müssten Maßnahmen gegen Migranten "verhältnismäßig" und "vorübergehend" sein
EU-Kommissionsvizepräsidentin Henna Virkkunen betonte, dass mögliche Einschränkungen des Asylrechts nur im Einklang mit dem Grundsatz des "Non-Refoulement" erfolgen dürften. Der im Völkerrecht verankerte Grundsatz verbietet die Rückführung von Flüchtlingen in ein Land, in dem ihnen Verfolgung droht. Da kommt dann möglicherweise wieder die Türkei ins Spiel, die großen Einfluss auf die neue syrische Regierung für sich reklamiert.
Es gibt also viel zu besprechen. Auch das EU-Türkei-Rücknahmeabkommen und die Modernisierung der Zollunion sollen auf der Agenda stehen. Und die Türkei drängt weiter auf Fortschritte bei der Visa-Liberalisierung - sie war, wie die Modernisierung der Zollunion, von der EU wegen politischen Rückschritten in der Türkei ausgesetzt worden.
Die Verfahren sollen beschleunigt werden. Kaum vorstellbar, dass Europa in der jetzigen Lage nicht zu Zugeständnissen bereit ist.