Vertrocknete Sonnenblumen stehen auf einem Feld.

Ernte in der Ukraine "Felder kann man nicht evakuieren"

Stand: 16.09.2024 16:03 Uhr

Während russische Truppen in der Region Donezk immer weiter vorrücken, fahren ganz in der Nähe der Front ukrainische Landwirte ihre Ernte ein. Dabei könnten sie jederzeit durch russischen Beschuss getötet werden.

Von Andrea Beer, ARD Kiew

Mykola Schabskyj steht in einem riesigen Sonnenblumenfeld und schaut, wie große rote Mähdrescher ihre Ernte-Runden drehen. Er ist Direktor der Firma Druschba, dessen Felder fast 13.000 Hektar Land umfassen. "Das Unternehmen ist eine der größten Agrarfirmen im Gebiet Donezk, das nicht russisch besetzt ist", konstatiert der 62-Jährige.

Die Front ist zwar noch rund 25 Kilometer weiter im Osten, doch die Firma muss dennoch auf die vorrückenden russischen Invasoren reagieren. Ein Teil der Geräte wurde schon Richtung Westen verlagert in die Region Dnipropetrowsk, darunter Sämaschinen und teure Sprühsysteme. "Wenn die Sonnenblumen geerntet sind, bringen wir die Mähdrescher in Sicherheit und dann die Menschen", sagt Schabskyj.

Ein Teil der Felder des Unternehmens nahe dem Ort Udatschne im Gebiet Donezk liegt direkt an der Frontlinie, und die Ernte dort einzufahren sei besonders gefährlich, ergänzt Roman Konko, der für diese frontnahen Felder verantwortlich ist. Auf dem Feld können die Arbeiter jederzeit von russischen Raketen, Drohnen oder Artillerie getroffen werden.

Es herrsche keine Panik, aber alle seien beunruhigt, so Konko. "Unsere Arbeiter fragen jeden Tag, ob das Unternehmen weitermacht oder nicht. Es ist alles kompliziert, heute arbeiten wir, morgen gibt es Beschuss und dann arbeiten wir nicht."

Roman Konko steht neben den Feldern.

Die Erntearbeit in Frontnähe sei sehr gefährlich, sagt Roman Konko. Die Arbeiter könnten jederzeit von russischen Raketen, Drohnen oder Artillerie  getroffen werden.

"Was man sät, muss man ernten"

"Was sollen wir machen", kommentiert Valentin Dorogutin und steigt für eine kurze Pause von seinem Mähdrescher. "Was man sät, muss man doch ernten", so der 51-Jährige, der bleiben will, solange es geht. Denn hat er einen Job, hat er auch ein Einkommen.

Die Sonne sticht und er wischt sich mit seinem braunen T-Shirt den Schweiß von der Stirn. Wie viele Männer im Land lebt auch er von seiner Familie getrennt - seine Angehörigen sind seit mehr als zwei Jahren im westukrainischen Lwiw. Dort schlagen zwar regelmäßig russische Raketen und Drohnen ein, aber es sei dennoch sicherer als hier im Osten, meint Dorogutin.

"Das ist nicht leicht für mich", murmelt er und wendet sich ab. Wieder wischt er sich über das Gesicht, doch dieses Mal trocknet er seine Tränen. Dorogutin zieht an seiner Zigarette und fängt sich wieder. "Deinen Gefühlen entkommst du nicht, das ist das Leben", sagt er entschuldigend. "Wir sind in einer üblen Lage, aber hoffen wir das Beste."

Personalmangel und Preisverfall

Dabei tun die Männer auf diesen endlos scheinenden Sonnenblumenfeldern weit mehr als nur zu hoffen. Sie fahren die Ernte ein, und das sei nicht mehr selbstverständlich, erläutert Chef-Agraringenieur Viktor Ivanjuk. "Der Krieg wirkt sich auch auf die Preise aus, und wir haben Probleme, Personal zu kriegen. Es gibt niemanden, der unter diesen Bedingungen arbeitet." Ein Teil der Sonnenblumen werde zu Öl verarbeitet und exportiert, sagt er. 

Stiele und Innenseiten der Blüten haben sich schon dunkel verfärbt und ihre gelben Blätter verloren. Bis Anfang Oktober sollten sie geerntet sein. Ein ruhiger Wind wiegt die Felder, was die Szenerie geradezu friedlich wirken lässt. Doch alle hier wissen, dass das täuscht.

Ein Schild, neben dem viele Fahnen stehen, weist auf das Gebiet Donezk hin.

Russische Truppen rücken langsam in der Region Donezk vor. Städte wie Pokrowsk sollen nun evakuiert werden.

Russischer Vormarsch auf Pokrowsk verlangsamt

Mehr als 30 Kilometer weiter Richtung Osten, noch hinter der Stadt Pokrowsk, kämpfen unterdessen Angehörige der 15. Brigade der Nationalgarde gegen die russischen Angreifer. Auf keinen Fall sollen diese die Stadt Pokrowsk erreichen. Denn sie ist ein wichtiger militärisch-logistischer Knotenpunkt mit einem Bahnhof und Straßen, die nach Westen sowie nach Norden und Nordosten in Richtung Front führen.

Dmytro kommandiert diese Artillerieeinheit und skizziert die Lage so: "Die Kämpfe sind sehr intensiv. Wir feuern bis zu zweihundert Schuss pro Tag. Der Feind setzt seine Angriffe fort und versucht, unsere Verteidigungslinien zu durchbrechen."

Nach Angaben der ukrainischen Armee und von Militärbeobachtern konnte der russische Vormarsch auf Pokrowsk ein wenig verlangsamt werden, doch die Gefahr ist nicht gebannt. Weiter südlich entlang der Front im Osten bewegen sich die Invasoren in Richtung Kurachowe, das an einer wichtigen Verbindungsstraße liegt, und auch die Stadt Wuhledar steht unter großem Druck.

Auch Behörden werden evakuiert

Nach Angaben der regionalen Militärverwaltung von Donezk sind noch etwa 25.000 Menschen in der Region Pokrowsk, die möglichst alle evakuiert werden sollen. Natalja Birjukowa ist noch geblieben. Sie arbeitet für den regionalen Fernsehsender Orbita, in dem die Evakuierung Thema Nummer eins ist. Auch die regionalen Behörden müssen die Stadt verlassen.

Die Fenster von Birjukowas ehemaligem Redaktionsgebäude sind mit Sperrholz vernagelt, denn es wurde von einer russischen Rakete getroffen. Sie selbst stammt aus dem nahegelegenen Myrnohrad. Die Front ist bis auf wenige Kilometer an den Ort herangerückt. Auch Birjukowa wird wohl irgendwann ihre Sachen packen müssen, doch sie möchte berichten, solange es geht.

Natalja Birjukowa vor dem zerstörten Redaktionsgebäude ihres Senders.

Natalja Birjukowa ist noch nicht aus Pokrowsk geflohen. Sie arbeitet für den regionalen Fernsehsender Orbita, für den die Evakuierung Thema Nummer eins ist.

Furcht vor Obdachlosigkeit und Wut

Liudmyla hingegen denkt nicht daran, Pokrowsk zu verlassen. Viele Geschäfte und die Banken haben bereits zu, und sie verkauft Brot und Gebäck aus einem Brotwagen. "Hier gibt es nichts zu sehen", knurrt sie unwillig und erzählt dann doch, warum sie trotz der Gefahr bleiben will. Sie verspürt einfach nur noch Wut.

Sie sei es leid, von einem Ort zum anderen vertrieben zu werden, und mit 60 werde sie wohl kaum noch eine Arbeit finden. Von der Regierung ist sie enttäuscht, da sie sich mehr Unterstützung wünscht: "Wenn sie mich jetzt Richtung Winnyzja im Westen schicken, dann werde ich bei den Obdachlosen auf der Straße landen."

Ihr Heimatort Marjinka im Gebiet Donezk war schon zu Beginn des Kriegs 2014 heftig umkämpft und bis zur russischen Großinvasion unter ukrainischer Kontrolle. Ende 2023 musste sich die ukrainische Armee aus Marjinka zurückziehen. Der kleine Ort liegt in Schutt und Asche, und die knapp 10.000 Einwohner mussten fliehen.

Nicht zum ersten Mal vertrieben

Auch Roman Konko von der Agrarfirma Druschba wohnt in Pokrowsk und bereitet sich auf die Evakuierung vor. Der 35-Jährige kam dorthin, als Russland 2014 den Donbass angriff, und wird damit nicht zum ersten Mal vertrieben. Es sei schwer, immer wieder von vorn anfangen zu müssen.

"Unsere Felder können wir nicht evakuieren. Und wenn wir die Region Donezk verlieren sollten, haben wir alle keine Arbeit mehr. Der Besitzer wird alles verkaufen, und wir stehen vor dem Nichts." Für Menschen ohne Geld hätte der Staat besser vorsorgen müssen, findet Konko. "Wir haben seit 2014 Krieg, und niemand organisiert hier etwas. Wir wussten doch, dass die Russen auf Pokrowsk gehen. Jetzt werden die Menschen in der ganzen Ukraine zerstreut."

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete NDR Info am 16. September 2024 um 08:34 Uhr.