Russlands Krieg gegen die Ukraine Kaum eine Nacht ohne Drohnenangriffe
Kaum eine Nacht vergeht, ohne dass Russland die Ukraine mit Drohnen angreift. Für die Soldaten der Luftabwehr bedeutet das, dass sie seit Monaten mit wenig Schlaf auskommen müssen. Wie kommen sie damit zurecht?
Sirenengeheul ertönt in der ukrainischen Hauptstadt Kiew, kurz danach sind Schüsse der Flugabwehr zu hören, es folgt eine heftige Explosion. Die Flugabwehr scheint ihre Arbeit getan zu haben. Hoffentlich.
Denn so müssen sich Kiews Bewohnerinnen und Bewohner nur um möglicherweise herabfallende Trümmerteile sorgen, nicht um einen großen Einschlag. Und das ist schon gefährlich genug.
Bis Ende Oktober hat Russland in diesem Jahr nach ukrainischen Angaben 6.987 Drohnen in die Ukraine geschickt, davon 2.023 allein im Oktober. Das zeigt, wie die Angriffe zunehmen.
Nur an einem Tag im Oktober attackierte Russland die Ukraine nicht mit Drohnen. Die Angriffe gehen über viele Stunden, oft die ganze Nacht hindurch. Es gibt Tote und Verletzte. Die ständige Unsicherheit ist eine unbeschreibliche Belastung für die Bevölkerung.
Westliche Bauteile in feindlichen Drohnen
Immer wieder wendet sich der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj an seine westlichen Partner, bittet um Hilfe - um "rechtzeitige Lieferungen von Raketenabwehrraketen" oder um striktere Ausfuhrkotrollen für Bauteile, die in den Raketen verbaut werden, mit denen Russland die Ukraine nahezu ununterbrochen attackiert.
"Es geht um mehr als 170.000 Bauteile, deren Lieferung nach Russland hätte verhindert werden müssen", sagt Selenskyj. Es handle sich dabei um "Mikrochips, Mikrocontroller, Prozessoren und viele andere Teile, ohne die dieser Terror einfach unmöglich wäre".
Mobile Flugabwehr im Dauereinsatz
Doch die heftigen Angriffe dauern an. Für Grygorij und Jurij bedeutet das Dauereinsatz. Sie sind Soldaten der mobilen Flugabwehr in der Region Kiew, kämpfen für mehr Sicherheit für die ukrainische Bevölkerung.
Sie bedienen ein "Avenger"-Luftverteidigungssystem, geliefert aus den USA. Das knapp fünf Meter lange und gut vier Tonnen schwere Gefährt kann mit "Stinger"-Raketen oder einem Maschinengewehr vor allem Drohnen in einer Distanz bis zu fünf Kilometern vom Himmel holen.
Grygorij und Jurij sind dem Fahrzeug fest zugeteilt. Nur sie bedienen es. Das bedeutet: Sobald Alarm ertönt, begeben sie sich auf ihre festen Positionen, warten auf vorbeifliegende Drohnen. 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Eine Ablösung gibt es nie
Der Ukraine mangelt es ohnehin erheblich an Soldaten. Erst Ende Oktober wurde bekannt, dass die ukrainische Regierung plant, ihre Armee um rund 160.000 weitere Soldaten zu vergrößern. Soldaten, die dringend benötigt werden.
An wenig Schlaf gewöhnt
Seit September sind Grygorij und Jurij als Team im Einsatz, vorher haben beide im Donbass gekämpft. Sie sind sehr müde, aber ebenso entschlossen. "Wir bekommen wenig Ruhe", sagt der 57-jährige Jurij. "Aber wir müssen die Drohnen vom Himmel holen. Wir müssen unseren Job machen."
Er habe sich in den fast drei Jahren seit Russlands Überfall auf die gesamte Ukraine so sehr an den wenigen Schlaf gewöhnt, dass eine Stunde Schlaf für ihn oft genug sei.
Das sieht auch sein Kamerad Grygorij so. "Wir denken ständig daran, dass das Leben anderer Menschen, unserer Mitbürger, von unserem Handeln abhängt", sagt er. Sie würden deshalb trotz der Müdigkeit und trotz der vielen Einsätze ständig trainieren, die Ausrüstung pflegen, damit nichts ausfällt. "Natürlich ist das ein großer Druck."
Russland lässt Drohnen tiefer fliegen
Hinzu kommt: Russland scheint zuletzt wieder seine Taktik geändert zu haben und lässt seine Drohnen besonders tief fliegen. Das soll verhindern, dass die Flugabwehr die Drohnen abschießt.
Das Problem: Je tiefer die Drohne fliegt, desto mehr Hindernisse können den freien Schuss der Flugabwehr und somit auch die Radarerfassung blockieren. Da können beispielsweise Wohnhäuser, Bäume, Schilder im Weg sein.
Außerdem sei es in Städten sehr schwierig, niedrig fliegenden Drohnen abzuschießen. "Das ist sehr gefährlich", sagt Anatolij Grabtschinski, ehemaliger Offizier der ukrainischen Luftwaffe und Militäranalyst. Deswegen kommen aktuell vermehrt Handfeuerwaffen wie Maschinengewehre in der Luftabwehr zum Einsatz.
Jurij sitzt am Steuer des Avenger-Luftabwehr-Systems. Zusammen mit seinem Kamerden Grigorij versucht er, Drohnen über Kiew abzufangen.
Strategie der Zermürbung
Laut ukrainischen Beobachtungen attackiert Russland aktuell vor allem zivile Ziele in den Städten. Das solle die Bevölkerung zermürben, sagt Dmytro Bielyk, Presseoffizier des Flugabwehrraketenregiments in der Region Kiew.
Erschöpfte Munition könne man mit Hilfe der westlichen Partner hoffentlich wieder auffüllen, sagt Bielyk. Mit erschöpften Bürgerinnen und Bürgern sei das anders: "Diese terroristischen Angriffe zielen darauf ab, die Gesellschaft zu zermürben und zu spalten." Das Hauptziel der Russischen Föderation sei, "so viele Opfer wir möglich unter der Zivilbevölkerung zu verursachen", sagt auch Grabtschinskj.
Doch geschwächt werden solle so auch die Wirtschaft. Man beobachte auch vermehrt Alarme, die früher hauptsächlich in der Nacht aufgetreten seien, aber jetzt teils um sechs Uhr abends beginnen und erst mittags enden können, sagt Grabtschinskj. "Das schafft eine Belastung für die Wirtschaft", die Ukraine sei unfähig, unter diesen Bedingungen zu arbeiten.
Grygorij und Jurij versuchen, sich mit diesen weiteren Folgen nicht zusätzlich zu belasten. Sie sehen es als ihre Aufgabe an, die Menschen in Kiew zu schützen - auch wenn die Bedingungen so kurz vor dem dritten Kriegswinter immer schwieriger werden.
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